Isegrim
selten über Hindernisse, sie ziehen es vor, sich durchzugraben. Am sichersten sind jedoch Herdenschutzhunde, groÃe, wehrhafte Hunde, die mit den Lämmern aufwachsen und deren alleinige Aufgabe es ist, ihre wolligen Kumpel zu bewachen und zu verteidigen.
Mit ein wenig Aufwand könnte Bernd Hartung seine beiden Herden wirksam schützen. Allerdings müsste Kais Vater erst einmal wissen, dass ihnen Gefahr droht und vor allem: von wem.
Ein paar Seiten drucke ich aus und lege sie in eine Schublade meines Schreibtisches. Wenn es so weit ist, will ich sie Kai geben. Aber zunächst muss ich mit ihm über etwas anderes reden. Nicht über wolfssichere Zäune und Herdenschutzhunde. Ich muss mit ihm über Herzensdinge reden, das bin ich ihm schuldig â schon seit Langem.
Ich nehme den Gartenweg, wo die Himbeeren in ihrem reifen Rot verlockend von den Büschen leuchten wie kleine Feuer. Ihr Geschmack ist eine Explosion fruchtig-saurer SüÃe auf der Zunge und mein Gaumen verlangt nach mehr. Ich nasche und trödele.
Wie finde ich nur die richtigen Worte, um zu sagen, was ich sagen will? Wie fange ich an? Kai ⦠ähm, ich bin zu dem Schluss gekommen, dass es besser ist, wenn wir Freunde bleiben. Nein. Kai, du bist mein bester Freund und wie ein Bruder für mich. Schon besser. Aber in welche Worte ich es auch verpacke, Kai wird zutiefst verletzt sein. Ich werde ihm furchtbar wehtun. Er wird mich hassen. Und für das Dorf werde ich diejenige sein, die einen »guten Jung« abserviert und unglücklich macht.
Folge dem Ruf deines Herzens, hat Tante Lotta zu mir gesagt. Das habe ich getan und nun muss ich dafür einstehen.
Ich bin fast beim Grundstück der Hartungs angelangt, als ich im Himbeerstrauch eine Rispe mit besonders groÃen Beeren entdecke. Ich pflücke sie und schiebe sie mir in den Mund, als ich mitbekomme, wie Kai zwanzig Meter vor mir durch die Gartentür tritt. Reflexartig ducke ich mich ins Himbeergestrüpp. Kai schaut sich um, als wolle er sich versichern, dass die Luft rein ist. Seltsam. Dann läuft er ein paar Meter, schaut sich noch einmal um und ist plötzlich verschwunden. Zurück auf dem Weg, laufe ich mit schnellen Schritten ein paar Meter. Wo ist Kai hin? Er ist nicht wieder zurück in seinen Garten gegangen und so schnell kann er das Ende des Gartenweges nicht erreicht haben.
Erst jetzt entdecke ich das hinter Himbeergestrüpp versteckte Loch im Maschendrahtzaun, der Tobias Zackes Grundstück umgibt. Zackes Einfahrt und sein Gehöft liegen am Ende einer schmalen AsphaltstraÃe, auf die der Gartenweg mündet und die kurz dahinter zum Waldweg wird. Kai hätte bloà nach links um die Ecke biegen und fünfzig Meter laufen brauchen, dann hätte er den offiziellen Eingang nehmen können.
Was, zum Teufel, will Kai von Tobias? Warum schlüpft er durch den Zaun wie ein Dieb?
Getrieben von Neugier folge ich ihm durch das Loch im Zaun. Kurz muss ich daran denken, dass Luzifer vielleicht gerade nicht in seinem Zwinger ist, aber wenn, dann wird er Kai zuerst finden.
Ich bin nicht zum ersten Mal auf dem von hohen Büschen umgebenen Grundstück, das direkt an den Wald grenzt, aber das letzte Mal ist fünf Jahre her. Ich erinnere mich an das zufriedene Lächeln auf Sievers Gesicht, als er mir den zahmen Siebenschläfer gezeigt hat.
Ein schmaler FuÃpfad schlängelt sich vom Zaun zwischen den Sträuchern hindurch in Richtung Scheune und Wohnhaus. Das Gras ist heruntergetreten, eine Schneise führt durch einen Brennnesselwald. Kurz sehe ich Kais schwarzen Lockenkopf zwischen den Sträuchern aufblinken und folge ihm in einigem Abstand. Schnurstracks läuft er auf Zackes Scheune zu und verschwindet im offenen Scheunentor.
Im nahen Umkreis der Scheune stehen drei von Zackes Schrottskulpturen. Wesen mit langen Krallen und Zähnen. Mit Monsteraugen aus verrosteten Kreissägeblättern, Händen aus alten Mistgabeln und krummen Auspuffbeinen.
Ich flitze zur Scheune, schleiche mich an der Bretterwand entlang, bis ich die Hofseite mit den groÃen Torflügeln erreicht habe. Ein Torflügel steht offen, dahinter könnte ich mich gut verstecken. Aber es ist der auf der anderen Seite. Also umrunde ich die Scheune auf ihrer Rückseite. Als ich auf der gegenüberliegenden Seite entlangschleiche, höre ich auf einmal Stimmen, ganz nah, zwischen mir und den beiden jungen Männern ist nur die
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