Isegrim
â¦Â«
»Warte«, sagt er, »ich bin noch nicht fertig. Bevor du deine wilden Spekulationen anstellst, will ich, dass du etwas weiÃt: Mein Onkel war achtundzwanzig, als er sich in eine seiner Schülerinnen verliebte, die damals siebzehn, fast achtzehn war. Aus beiden wurde ein Paar, das stimmt. Sie trafen sich heimlich. Doch irgend so ein spieÃiges Arschloch verriet sie und mein Onkel wurde aus dem Schuldienst gefeuert. Die Schülerin hieà Hanne, ein Jahr später wurde sie seine Frau.«
Ich hole geräuschvoll Luft, während mein Hirn beginnt, wild zu arbeiten.
»Sie sind hierhergezogen, weil in diesem Kaff niemand ihre Geschichte kannte«, fährt Tobias fort. »Als Tante Hanne an Krebs starb, war mein Onkel am Boden zerstört. Sie war zehn Jahre jünger als er und hätte ihn überleben sollen. Er verlor die Freude am Leben, wurde depressiv und trug sich schon seit Wochen mit Selbstmordgedanken. Aber dann â¦Â« Tobias mustert mich eindringlich, als wolle er prüfen, ob ich die Wahrheit auch vertrage. »Dann habe ich mit einem Kumpel ein ziemlich bizarres Ding gedreht. Wir mussten uns verstecken, wenn wir nicht Gefahr laufen wollten, im Knast zu landen. Wir hausten auf Onkel Martins Dachboden, tagelang. Dann verschwand deine Freundin und es war nur eine Frage der Zeit, bis es im Dorf von Polizisten wimmeln würde. Wir sind durch den Wald abgehauen, sind bis nach Italien runtergetrampt und erst zwei Monate später nach Deutschland zurückgekehrt. Da war mein Onkel schon unter der Erde.«
Schöne Geschichte, denke ich. Aber irgendetwas in Tobiasâ Augen sagt mir, dass er mir die Wahrheit erzählt hat.
»Du hättest sein Ansehen wiederherstellen können«, wende ich nach einer Weile des Schweigens ein, »auch nach zwei Monaten noch. Dann ⦠du hättest es auch einfacher gehabt im Dorf.«
»Onkel Martin war tot. Alles war kompliziert, also habe ich einfach den Mund gehalten. Ich dachte, es kann ihm egal sein, was die Leute über ihn denken, es juckt ihn nicht mehr, und abgesehen von meinem Säufervater und mir hatte er auch keine Verwandten. Womit ich nicht gerechnet habe, ist die Sippenhaft, der ich hier ausgeliefert bin. Mörderhaus, verdorbenes Blut. Manchmal habe ich nicht übel Lust, einen von ihnen abzumurksen.«
Auf einmal sieht Tobias ganz jung aus. Ich kann ihm nachfühlen, wie es ist, wenn man vom halben Dorf geächtet wird, bloÃ, weil man nicht ins Schema passt.
»Das bizarre Ding, das dein Kumpel und du gedreht habt«, frage ich mit zögerlicher Stimme. »Was war das?« Ich mustere ihn eindringlich und Tobias merkt wohl, dass es von seiner Antwort abhängt, ob ich ihm seine Geschichte glaube.
»Also gut.« Er seufzt. »Erinnerst du dich an das Hitlerfenster im Felsen?«
»Klar.« Wortlos starre ich ihn an, als ich verstehe, was er mir da gerade sagen will. »Das warst du?«
Verlegen zuckt er die Achseln. »Mein Kumpel und ich. Es sollte ein Scherz sein, wir wollten den Spinnern mit ihren Verschwörungstheorien eins auswischen, sie lächerlich machen. Aber dann war auf einmal die Polizei hinter uns her. Sie hätten uns eingebuchtet, verstehst du?«
Mannomann, das habe ich Tobias nun wirklich nicht zugetraut. »Und du hast wirklich nichts mit Neonazis am Hut?«
Beinahe flehend schaut er mich an. »Nein, verdammt, das musst du mir glauben, mit diesem Scheià habe ich nichts zu tun. Ich weià auch nicht, wieso die Leute im Dorf solche Gerüchte in die Welt setzen.«
Keine Ahnung, warum, aber ich glaube ihm. Die ganze verrückte Geschichte. Doch daraus ergibt sich eine beängstigende Konsequenz.
»Angenommen, du sagst die Wahrheit, dann läuft Alinas Mörder noch da drauÃen herum.« Meine Gedanken überschlagen sich, als ich das Ungeheuerliche denke. »Vielleicht ist es sogar jemand aus dem Dorf.«
»Darüber habe ich mir damals auch den Kopf zerbrochen. Aber ich glaube nicht, dass es jemand aus dem Dorf war. Schau dir das Kaff doch an: Alles ist so eng, jeder passt auf den anderen auf. Stell dir vor, die Ãberreste deiner Freundin tauchen plötzlich auf, irgendwo im Wald oder was weià ich, wo. Da können noch DNA-Spuren dran sein und zack«, er klatscht in die Hände, »haben sie ihn.«
Dieser Gedanke ist nicht von der Hand zu weisen, doch da ist immer noch Alinas Kleid, das man in Sievers Wohnwagen
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