Isegrim
Roland ihren Mann an. »So kannst du nicht in den Wald.«
Der alte Roland hat seine Sonntagssachen an. Eine gebügelte Anzughose, ein weiÃes, kurzärmliges Hemd und eine leichte Strickweste â trotz der lähmenden Hitze.
»Ich brauche auch zehn Minuten«, räumt Karsten Merbach mit einem Blick auf seine teuren Lederslipper ein. »Ich muss andere Schuhe anziehen.«
»Einverstanden«, beschlieÃt Trefflich. »Vergesst nicht, Taschenlampen mitzubringen. Wir treffen uns in zwanzig Minuten am Ortsausgang. Und schnappt euch einen Prügel, falls uns da drauÃen der Schafkiller über den Weg läuft.«
Hämisch grinst er mich an. Jagdfieber brennt in seinen Augen. Trefflich muss ganz bestimmt nicht nach Hause, um sich umzuziehen und seine Schuhe zu wechseln. Er will sein Gewehr holen, da bin ich mir sicher.
Unauffällig schiebe ich mein Rad an den Leuten vorbei. Ich hoffe, dass keiner auf mich achtet, dass ich mich in den Sattel schwingen und davonradeln kann. Mit langsamen Bewegungen steige ich auf und setze den rechten Fuà auf die Pedale. Doch ich komme nicht vorwärts.
»Schön hiergeblieben, Fräulein.« Ein schneller Blick zurück: Bernd Hartung hält mein Rad am Gepäckträger fest.
Falsch gehofft, Jola.
Ich springe aus dem Sattel und sprinte los, höre den Aufschrei der Leute, als sie merken, dass ich ihnen entwischen will. Ich stolpere und stürze aufs Pflaster, schlage mir das Knie auf und zerschramme mir die Handflächen, aber mit einem Satz bin ich wieder auf den FüÃen und laufe, als wäre der leibhaftige Teufel hinter mir her.
»Bleib sofort stehen, du falsche Schlange!« Das ist Hubert Trefflich. Schritte, irgendjemand verfolgt mich. Ich drehe mich nicht um, laufe, so schnell ich kann, und werde erst langsamer, als ich nichts mehr hinter mir höre und im Wald bin, meinem Refugium.
Keuchend beuge ich mich nach vorn, stemme die Hände gegen meine zitternden Oberschenkel, bis ich wieder zu Puste komme und das Hämmern in meinen Ohren aufhört. Mein rechtes Knie blutet und die Wunde ist voller StraÃendreck, aber dagegen kann ich erst in der Höhle etwas tun.
Ich richte mich auf, ziehe den Gummi aus meinen Haaren und drehe sie zu einem Knoten am Hinterkopf, sodass Luft an meinen Nacken kommt. Mein Top ist nass von SchweiÃ, ich ziehe es am Saum vom Körper weg, während ich weiterlaufe in Richtung Truppenübungsplatz. Alle paar Meter bleibe ich stehen und rufe nach Elli, obwohl ich nicht wirklich glaube, dass sie hier irgendwo sitzt und sich versteckt. Sie ist das furchtloseste kleine Mädchen, das ich kenne, aber vier Stunden sind eine lange Zeit und meine Angst um Elli wächst mit jedem Schritt und jeder Minute. Längst zweifle ich an meinen eigenen Worten â warum sollte Elli sich vier Stunden lang freiwillig irgendwo verstecken? Sie muss sich verlaufen haben und ich bin schuld. Sie kennt sich nicht aus im Wald â was, wenn ihr etwas passiert?
Nachdem ich die RingstraÃe überquert habe, höre ich auf zu rufen. Mit hämmerndem Atem erreiche ich den Brombeerfelsen und zwänge mich durch den Spalt in die Höhle. Ich rufe leise nach Olek, während ich mich durch den dunklen Gang taste.
Keine Antwort. Schwaches Abendlicht fällt durch das Fensterloch in Oleks verwaiste Behausung. Am Nachmittag war er nicht da und jetzt ist er es auch nicht. Wo ist Olek? Wo ist Elli? Wo ist Olek? Elli? In meinem Kopf beginnt sich alles zu drehen. Mir ist übel, meine Augen brennen. Todunglücklich lasse ich mich auf Oleks Lager sinken, von dem der Geruch nach wilden Kräutern aufsteigt.
Ich streiche mit den Händen über das Laken, als ich etwas Fusseliges in die Finger bekomme. Etwas, das nicht hier sein dürfte. Sammy, Ellis hässliches Stofftier. Sammy, ohne den sie keinen Schritt macht. Zuerst denke ich: Olek hat Elli gefunden, sie ist in Sicherheit. Gleichzeitig packen mich Zweifel. Wo sind die beiden?
»Elli?« Meine Stimme klingt hysterisch.
Da entdecke ich das Blut. Dunkelrote Tropfen am Höhlenboden zwischen Tisch und Bett. Mit fahrigen Bewegungen taste ich nach der Taschenlampe, aber sie ist nicht an ihrem Platz. Ich schnappe mir die Campinglampe und schalte sie ein. Es ist Blut, kein Zweifel.
Was ist hier geschehen? Ich habe das Gefühl, als werde ich innen ganz leer.
»Elli? Olek?«
Nichts.
Im Schein der Campinglampe inspiziere ich auch die
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