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Isegrim

Isegrim

Titel: Isegrim Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Babendererde
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an. Tiere wissen, wann Schonzeit ist. Und die Tiere vom Militärgelände wissen, wann der Übungsbetrieb vorbei ist. Schon oft habe ich in den frühen Morgenstunden auf einer Lichtung beobachtet, wie die Rehe in aller Ruhe äsen. Ein paar Minuten bevor der Übungsbetrieb beginnt, verschwinden sie im Dickicht. Wenn die Schießübungen enden, sind sie kurz darauf wieder da. Das Geballer scheint sie überhaupt nicht zu stören, ganz im Gegensatz zu den Bewohnern der umliegenden Gemeinden.
    Mit ein paar Sätzen verschwinden sie im Gesträuch. Ein schmaler Wildpfad führt mich durch das Unterholz bis zu einem meiner geheimen Plätze, einer alten Eiche mit tief ansetzenden Ästen. Ein paar Wochen war ich nicht mehr hier und ich hoffe, dass das Wildkatzenpärchen, von dem Pa mir erzählt hat, vielleicht hier irgendwo Quartier bezogen hat.
    Die alte Eiche dient mir als Ansitz. Ich ziehe mich von einem Ast zum nächsten, höher und höher. Oben im Baum gibt es ein gemütliches Plätzchen in einer breiten Astgabel, auf dem ich stundenlang ausharren kann, ohne dass mir langweilig wird.
    Mit dem Fernglas vor Augen lasse ich meinen Blick über einen mit Sträuchern und Kiefernschösslingen bewachsenen Hang hinunter in eine Senke gleiten, wo junge Birken wachsen und Wasser in der Sonne funkelt. Wenn es regnet, bildet sich dort unten ein kleiner Teich. Bei Trockenheit ist es nicht mehr als eine Mulde, die jedoch nie völlig austrocknet – eine perfekte Wildsuhle.
    Große Hoffnungen, eine Wildkatze zu entdecken, mache ich mir nicht, denn diese Tiere sind extrem scheu. Aber inzwischen ist später Nachmittag und irgendwer wird zum Wasser kommen, da bin ich mir sicher. Mein Blick streift ins Geäst der Kiefern auf der anderen Seite der Senke und an ihren orangefarbenen Stämmen wieder nach unten.
    Da – es bewegt sich etwas. Ein Fuchs! Nein, zu groß. Das Tier senkt den Kopf und trinkt, richtet sich aber sofort wieder auf und sichert seine Umgebung. Mir entschlüpft ein überraschter Laut: Es ist ein großer Schäferhund mit rötlich grauem Fell. Der Hund lauscht für Sekunden mit aufgerichteten Ohren und verschwindet im nahen Unterholz. Mit dem Fernglas suche ich die Umgebung ab. Wo steckt der Besitzer von dem Vieh?
    In Thüringer Wäldern besteht das ganze Jahr über Leinenpflicht für Hunde, ob groß oder klein. Denn auch ein Schoßhündchen kann dem Gelege eines Bodenbrüters den Garaus machen. Aber wenn mein Vater einen Hundebesitzer dabei erwischt, dass er seinen Wuffi im Wald frei laufen lässt, drückt er meist ein Auge zu, und das ärgert mich. Der Hund gehört bestimmt einem Offizier, deshalb rühre ich mich nicht und warte noch ein paar Minuten.
    Als niemand auftaucht, stecke ich das Fernglas zurück in den Rucksack, hangele mich vom Baum und laufe den Hang hinunter. Am schlammigen Rand des Wasserloches entdecke ich neben alten Spuren von Wildschweinen, Rehen und einem Dachs auch die frischen, ungewöhnlich großen Trittsiegel des Hundes und folge seinen Spuren in das Birkenwäldchen, das von jungen Kiefern und Beerensträuchern durchsetzt ist.
    Plötzlich steigt mir wilder Blutgeruch in die Nase. Erschrocken taumele ich einen Schritt zurück, meine Nackenhaare richten sich auf. Vor mir im Gras liegt ein blutiges, verschlungenes Etwas und ich brauche einen Moment, bis ich erkenne, was es ist. Der Bauchraum des toten Frischlings ist aufgerissen, der Darm auf eine Länge von einem Meter herausgezerrt. Es riecht streng nach Eingeweiden. Ich kämpfe gegen den Würgereiz und beuge mich über den Kadaver. Der Schäferhund hat Muskelfleisch, aber kaum von den Innereien gefressen. Offensichtlich habe ich ihn bei seinem Mahl gestört.
    Nun werde ich doch wütend. Von Anfang April bis Mitte Juli werfen Wildtiere ihre Jungen und in dieser Zeit soll man mit seinem Hund auf den Wegen bleiben, und zwar mit seinem angeleinten Hund. Ich beschließe, meinem Vater von diesem Schäferhund und dem gerissenen Frischling zu erzählen, denn ich bin mir sicher, bei einem wildernden Hund versteht auch Pa keinen Spaß.
    Ein Blick auf meine Armbanduhr. Es ist Viertel vor sechs, ich habe zu lange in meinem Baumnest gesessen. Wenn ich rechtzeitig zum Abendessen zu Hause sein will, muss ich mich schleunigst auf den Rückweg machen. Mit dem Handy schieße ich ein paar Fotos von dem gerissenen Frischling und

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