Isegrim
Grundstückes. Auf dem von Gartenzäunen und Obstbäumen auf der einen und wilden Himbeersträuchern auf der anderen Seite gesäumten Weg schwinge ich mich in den Sattel und trete in die Pedale.
Nach zwanzig Metern mündet der Gartenweg auf den Forstweg am Ende des Dorfes, der durch den Wald führt und nach zwei Kilometern die asphaltierte RingstraÃe kreuzt, die um den Truppenübungsplatz herumführt und die Grenze des militärischen Sicherheitsbereiches markiert. Von dort geht der Weg weiter durchs Sperrgebiet bis zum GroÃen Tambuch, einem lang gezogenen, zumeist mit uralten Buchen bewachsenen Höhenrücken.
Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten die Sowjets das Areal jahrzehntelang als Ãbungsplatz genutzt und nie geräumt. Deshalb liegt dort noch allerhand explosive Restmunition herum und es ist unter Strafe verboten, insbesondere dieses Waldgebiet zu betreten.
Meinem Vater musste ich hoch und heilig versprechen, meine Streifzüge nicht auf das Sperrgebiet auszudehnen, denn sollte ich von patrouillierenden Feldjägern oder den zivilen Bewachern der Bundeswehr erwischt werden, droht Anzeige wegen unbefugten Betretens und Pa bekommt höllischen Ãrger mit dem Platzkommandanten.
Seit jedoch sicher ist, dass ein Wildkatzenpärchen auf dem Tambuch eingezogen ist, hat das Sperrgebiet neue Anziehungskraft für mich bekommen und abgesehen davon ist es ein Leichtes, den Bewachern aus dem Weg zu gehen, wenn man ihre Zeiten kennt.
Im Augenblick herrscht kein Ãbungsbetrieb, der rot-weiÃe Ball, der sonst weithin zu sehen ist, hängt nicht am Mast. Die Soldaten üben nur bis halb vier und danach ist schlagartig Ruhe auf dem Gelände.
Noch etwa hundert Meter von der RingstraÃe entfernt, steht rechter Hand, halb hinter Sträuchern versteckt, der grün gepunktete HolzstoÃ. Ich stelle mein Rad so ab, dass man es vom Weg aus nicht sehen kann. Dann laufe ich schräg in den Wald hinein. Es ist ein sonniger Frühlingsnachmittag, doch im Schatten der Bäume ist es kühl. Sonnenstrahlen, die durch die Zweige der Kiefern fallen, bilden helle Flecken auf dem Waldboden, bewegliche Inseln des Lichtes.
Bei Tag ist der Wald ein anderes Wesen als in der Nacht. Die Geräusche klingen weniger verstörend und man kann die Tiere sehen, die sie verursachen. Ich liebe den Wald zu jeder Tageszeit, ob im Frühling, Sommer, Herbst oder Winter. Hier bin ich ein Teil dessen, was mich umgibt: ein Baum, ein Grashalm, ein Vogel, ein Schmetterling. Ich atme den würzigen Duft der Kiefernnadeln und fühle mich herrlich leicht. Das ist der Moment, nach dem ich mich den ganzen Tag gesehnt habe.
Ein paar Minuten später erreiche ich die RingstraÃe, verharre lauschend einen Augenblick im Gebüsch, ob nicht vielleicht noch ein Jeep der Range Control unterwegs ist. Die Feldjäger kontrollieren in Abständen die beschrankten Zufahrtswege, aber allzu oft sind sie nicht auf Patrouille. Kein Motorengeräusch. Ich husche über den vier Meter breiten Asphalt und tauche wieder in den Schatten des Waldes ein, bin im Verbotenen Land.
Das Gelände des Truppenübungsplatzes ist eine unendliche Geschichte. Im Schutz der über hundert Jahre dauernden militärischen Nutzung konnten sich darauf Tier- und Pflanzenarten erhalten und entwickeln, die einzigartig sind. Die Wildnis besteht aus zahllosen verschiedenen Baumarten wie Eschen, Eichen, wilden Obstbäumen, Birken, Schwarzkiefern, Espen und uralten Buchen, deren silberne Stämme von schrecklichen Wunden durch Metallsplitter der Ãbungsgeschosse gezeichnet sind.
Im Dickicht hausen Birkhuhn, Wildkatze, Hirsch, Reh, Fuchs und Wildschwein. Es gibt Feuchtbiotope, Buschflächen, Trockenwiesen und Urwald. Unter dem dicken Teppich aus rottendem Laub und Kiefernnadeln schlummern Ãberreste von Bunkeranlagen, die Gebeine von fünftausend Häftlingen, alte Munition aus mehreren Jahrzehnten und irgendwo vielleicht auch Alinas Knochen. Ich habe mich oft gefragt, wie es wäre, durch einen dummen Zufall auf sie zu stoÃen. Aber es gibt Dinge, die entziehen sich unserem Vorstellungsvermögen.
Ãberraschend stehe ich vier Rehen gegenüber. Es sind zwei Ricken mit ihren Kitzen und ich starre auf ihre schwarz glänzenden Nasen. In dieser Jahreszeit sind sie allein unterwegs â ohne ihre männlichen Beschützer. Sie heben gleichzeitig die Köpfe und blicken mich mit ihren dunklen Augen ohne Scheu
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