Isegrim
raus.
Ich will nicht über Sokrates oder Platon diskutieren. Will keine Vokabeln und mathematische Lehrsätze büffeln, keine Klausuren mehr schreiben. Ich will etwas spüren.
Im Bus erzählt mir Kai, dass sein Vater ihn dazu verdonnert hat, am Nachmittag den Nachtpferch der kleineren Schafherde umzusetzen und die Ohrmarken der Tiere zu kontrollieren.
»Das wird mich den gesamten Nachmittag kosten«, bemerkt er missmutig. »Diese dämlichen EU-Bestimmungen sind total hirnrissig. Früher ging es doch auch ohne Ohrmarken und Chips. Genügt es nicht, dass wir Menschen bis ins Mark kontrolliert werden, muss auch noch jedes dämliche Schaf in Deutschland elektronisch erfasst sein?« Er schüttelt den Kopf und ich weiÃ, dass er Mitleid von mir erwartet. Kai ist wütend wegen des verlorenen Nachmittages, aber er kann seinem Vater die Hilfe nicht ausschlagen. Es wird noch viele solche Nachmittage oder Wochenenden für ihn geben, so lange, bis Kai sein Abi gemacht hat und wir zusammen auf Nimmerwiedersehen von hier verschwinden.
Auf den restlichen Kilometern Busfahrt höre ich mir an, was ich schon zig Mal gehört habe: Die blöden Ohrmarken sind nur eines der vielen Probleme, mit denen sich die wenigen verbliebenen Schafzüchter herumplagen müssen. Der ScheiÃchip ist ein ständiger Entzündungsherd im Ohr und oftmals reiÃen sich die Tiere diese Dinger heraus, wenn sie damit im Zaun oder in Sträuchern hängen bleiben. Kommt jedoch eine Kontrolle der Landwirtschaftskammer und entdeckt ein Schaf ohne Ohrmarke, muss der Besitzer Strafe zahlen.
Kais Vater ist mit Leib und Seele Schafzüchter, wie schon sein Vater, sein GroÃvater und der UrgroÃvater. Und für ihn steht auÃer Frage, dass Kai diese Tradition eines Tages fortsetzen wird. Kais Eltern waren dagegen, dass er aufs Gymnasium geht, aber seine beiden groÃen Schwestern haben ihm den Rücken gestärkt. Bis heute behauptet Bernd Hartung, dass ich es war, die seinem Sohn diesen Floh ins Ohr gesetzt hat.
Als wir vor dem Hoftor der Hartungs angekommen sind, habe ich genug von Schafen und Ohrmarken. »Zeig deinen Paps doch wegen Kinderarbeit an«, sage ich und knuffe Kai grinsend gegen die Schulter.
Er betrachtet mich mit finsterem Blick. Vermutlich hat er gehofft, dass ich ihm helfe (was ich manchmal tue), aber ich habe anderes im Sinn für diesen Nachmittag. Ich kann es kaum erwarten, wieder in meinen Wald zu kommen.
»Das nächste Mal bin ich wieder dabei«, sage ich. »Aber jetzt muss ich los. Du weiÃt ja, wie furchtbar meine Mutter sein kann, wenn ich zu spät zum Essen komme. Wir sehen uns morgen.«
Ich drücke ihm einen Kuss auf die Wange und laufe nach Hause.
Der groÃe Schäferhund lässt mir keine Ruhe. Und so mache ich mich nach dem Mittagessen erneut auf den Weg zu meinem Eichen-Ansitz über der Senke. Ich habe Pa immer noch nicht von dem Tier erzählt, es hat sich einfach nicht ergeben.
Nach einigen Klimmzügen habe ich die breite Astgabel erreicht und mache es mir bequem in der Umarmung des Baumes. Im grün gewaschenen Licht der Eichenblätter komme ich mir vor wie im Inneren eines Vogeleis. Geborgen.
Mein gezoomter Blick streift über den Waldrand, durchforstet Birkendickicht, Beerensträucher und Unterholz. Nichts. Diesmal habe ich keine Ruhe und klettere nach ein paar Minuten wieder nach unten, um die Wildsuhle nach frischen Spuren abzusuchen. Dabei entdecke ich Blut im Gras, aber keinen Riss. Hat er es wieder getan? Ist er noch hier? Ein wildernder Hund könnte auch den Wildkatzen zur Gefahr werden.
Verdammt! Was ist das? Da sind FuÃspuren am Rand der Suhle. Ich stelle meinen Fuà neben eine deutliche, noch frische Spur. Die Abdrücke sind definitiv nicht von mir, sie sind um einiges gröÃer und haben ein völlig anderes Profil als meine Turnschuhe. Aber Soldatenstiefel sind es auch nicht.
Also hat der Schäferhund doch einen Besitzer. Einen, der ihn offensichtlich wildern lässt. Oder hat einer von Pas Jagdkollegen auf das Tier geschossen? Stammt das Blut im Gras von dem Schäferhund? War der Kitzmörder deshalb gestern Abend in Pas Büro? Das wäre allerdings ein ziemlich groÃer Zufall.
Im Dickicht hinter dem Birkenhain knackt es. Ich schrecke zusammen wie nach einem Gewehrschuss. Durch mein Hirn jagen Bildfetzen von der braunen Haarsträhne am Nest des Würgers, vom groÃen
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