Isegrim
den Hundespuren im Schlamm. Meine Blase meldet sich, und bevor ich mich auf den Heimweg mache, erleichtere ich mich hinter einem Strauch.
Nachdem ich ein paar Schritte Richtung Hang gelaufen bin, lässt mich ein Rascheln im Gesträuch innehalten. Zweige knacken und genau wie gestern spüre ich, dass ich beobachtet werde.
Nicht schon wieder!
Ich fahre herum. »Hallo, ist da wer?«
Das Knacken hört auf, hinter der Wand aus Blättern bleibt es still.
»Den Hund im Wald frei laufen zu lassen, kann Sie eine fette Strafe kosten«, rufe ich mit verhaltener Stimme. »Mein Vater ist hier der Revierförster. Er hat das Recht, den Hund zu erschieÃen, wenn er nicht angeleint ist.«
Eine Antwort bekomme ich nicht. Vermutlich habe ich mit einem Eichhörnchen geredet. Oder einem Reh. Ich wende mich um und steige mit groÃen Schritten den Abhang hinauf. Nach zwanzig Minuten überquere ich die AsphaltstraÃe und bin wieder auf der sicheren Seite.
Obwohl ich mich beeilt habe, sitzen meine Eltern schon beim Abendessen, als ich in die Küche komme. Ich murmele eine Entschuldigung und verschwinde erst einmal im Bad, um meine Hände zu waschen. Als ich schlieÃlich am Tisch sitze und mir eine Schüssel mit Bohnensuppe fülle, straft Ma mich mit Schweigen.
Strafpredigt oder Schweigefolter sind ihre beiden Methoden, mich dafür büÃen zu lassen, dass ich ein anderes Leben habe als sie, eines ohne Angst. Mein Vater hingegen weiÃ, wie schnell die Zeit vergeht, wenn man ein wildes Tier beobachtet. Zehn Minuten zu spät kommen, ist für ihn kein Grund, mir Vorhaltungen zu machen.
»Ich war heute beim Waffen-Weck und habe dir etwas mitgebracht.« Pa langt in seine Hosentasche und reicht mir ein nagelneues Opinel mit Eichenholzgriff. Diese einfachen Klappmesser werden in Frankreich hergestellt, sie haben dünne, superscharfe Klingen. Ich hatte immer eines in meinem Rucksack, aber vor ein paar Wochen hat Kai mein altes Messer benutzt, um damit an seinem Fahrrad herumzuschrauben, und dabei die Spitze abgebrochen.
»Cool.« Lächelnd gebe ich meinem Vater einen Kuss auf die stoppelige Wange. »Danke.« Ich klappe das Messer auf und arretiere die rostfreie Klinge, die im Licht der Küchenlampe funkelt wie ein kostbarer Schatz. Typisch Pa, dass er mir nicht etwa Schokolade von der Krämerbrücke mitbringt oder vielleicht Parfüm, irgendetwas, das mehr zu einem Mädchen passt als ein superscharfes Messer.
»Deine Tochter kommt zu spät zum Abendessen und du belohnst sie auch noch dafür«, protestiert Ma. Ihre Stimme klingt ein wenig schleppend. Das macht das Tavor. Ein Fremder würde nichts merken, aber ich weiÃ, dass sie Tabletten genommen hat.
Es herrscht mal wieder dicke Luft zwischen meinen Eltern. Vielleicht ist der Grund mein Zuspätkommen, vielleicht aber auch etwas ganz anderes. Ich habe keine Lust, es herauszufinden, es würde sowieso nichts an der angespannten Stimmung ändern.
»Mach kein Drama draus, Ulla«, sagt mein Vater. »Jola wird in drei Monaten siebzehn und du musst langsam lernen loszulassen. Unsere Tochter wird erwachsen.«
Die beiden beginnen zu streiten und ich fluche innerlich, nicht pünktlich gewesen zu sein. Es sind die Uhrzeiten, an denen meine Mutter ihr Leben verankert. Es hätte Tomaten regnen können, grüne Männchen hätten durch die DorfstraÃen spazieren oder ein Meteorit auf dem Dorfplatz einschlagen können, Punkt sieben Uhr steht bei uns das Abendessen auf dem Tisch. Ist einer von uns nicht rechtzeitig da, fühlt Ma sich persönlich angegriffen.
SchlieÃlich springt mein Vater verärgert auf und verlässt vor sich hin schimpfend die Küche. Ma dreht den Salzstreuer zwischen ihren Fingern und weint lautlos. Wie oft unsere gemeinsamen Mahlzeiten auf diese Weise enden und wie sehr ich das hasse. Ich frage mich, ob nur Ma kaputt ist oder inzwischen auch die Ehe meiner Eltern.
Das Lachen hat dieses Haus schon vor langer Zeit verlassen. Früher sind meine Eltern an den Wochenenden oft nach Arnstadt zum Tanzen gefahren, sind ins Konzert gegangen oder ins Kino. Heute bleiben nur noch die Glotze oder die Kneipe. Das Gespenst Angst hat Einzug gehalten und hockt zwischen Ma und Pa und mir.
Ich räume den Tisch ab und das Geschirr in die Spülmaschine. Nachdem ich die Küche in Ordnung gebracht und die Grünabfälle zum Kompost getragen habe, sitzt Ma immer
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