Isegrim
noch reglos da und starrt auf die Tischplatte. Mir drückt es das Herz zusammen, wenn ich sie so sehe, doch mir fehlen die Worte. Ich trete hinter sie und umarme sie. Spüre, wie ihr Körper bebt.
»Ich hab dich lieb, Mami«, flüstere ich in ihr Haar. Dann löse ich mich von ihr und gehe hinüber ins Wohnzimmer, um Pa unter vier Augen von dem wildernden Hund zu erzählen.
Im Wohnzimmer brennt die Stehlampe neben der Ledercouch, aber Pa ist nicht da. Durch die breite Glasfront zum Garten sehe ich, dass drüben im Büro Licht brennt. Dort hat Pa auch seine Kühl- und Zerwirkkammer, wo er die erlegten Tiere ausbluten lässt und zerlegt. Daneben die Räucherkammer, ein kleiner, aus Backsteinen gemauerter Anbau.
In Pas Büro, an dessen Wänden Jagdtrophäen hängen, steht auch der Waffenschrank. Ma will weder die Geweihe und Gehörne (die meisten stammen von Opa August) noch die Jagdwaffen im Haus haben, was ich ausnahmsweise mal nachvollziehen kann.
Als ich hereinkomme, sitzt Pa an seinem Schreibtisch, Wilma zu seinen FüÃen. Wilma darf nicht ins Haus, sie macht zu viel Dreck, behauptet Ma. Aber hier darf sie sein. Pa dreht und wendet ein neues Jagdgewehr in seinen Händen.
»Eine Marlin«, sagt er, als ich die Tür hinter mir geschlossen habe. »Ist sie nicht schön?« Seine Augen leuchten vor Begeisterung. Die Repetierbüchse hat ein Zielfernrohr und einen Synthetikschaft mit Herbstlaubmuster â zur besseren Tarnung.
»Hm, schön«, lüge ich, denn ich kann etwas, das töten wird, nicht schön finden. Aber ich will den Draht zu meinem Vater nicht verlieren. Ich liebe ihn und ich weiÃ, dass er mit Leib und Seele Revierförster ist. Seine Begeisterung für Waffen allerdings, die ist mir ebenso fremd wie seine Jagdleidenschaft.
Ein Jahr nach der Wende hat Pa begonnen, in der Landeshauptstadt Forstwirtschaft zu studieren, wo ihm im letzten Jahr seines Studiums meine Mutter in die Arme lief. Sie sind beide in Altenwinkel aufgewachsen, jedoch neun Jahre auseinander, und als mein Vater anfing, sich für Mädchen zu interessieren, ging meine Mutter noch in den Kindergarten.
Doch als sie sich an einem warmen Sommerabend auf der Krämerbrücke über den Weg liefen, funkte es sofort. Zwei Jahre danach heirateten meine Eltern und ich frage mich oft, ob sie heiraten mussten, denn fünf Monate später wurde ich geboren.
Pa bewarb sich beim Bundesforst um das Altenwinkler Revier und bekam es. Ma sagt, dass sie einen Förster und keinen Jäger geheiratet hat. Und ich denke dann jedes Mal, dass mein Vater eine lebenslustige Germanistikstudentin geheiratet hat und keine angstzerfressene Frau, die sich die Hälfte des Jahres nicht aus ihren vier Wänden heraustraut.
Mein Blick fällt auf die ausgestopfte Waldohreule, die auf dem stählernen Waffenschrank steht und mich mit ihren Glasaugen anstarrt. Gleich daneben ein Zehnender an der Wand, darunter der von meiner Oma Frieda im Kreuzstich gestickte und gerahmte Spruch: JAGD IST EIN GLÃCKSZUSTAND.
Mein Opa August war auch Förster und Jäger, genauso wie sein GroÃvater und sein UrgroÃvater. Ich bin die Erste in der Familie, die mit dieser Tradition brechen wird. Vermutlich hofft Pa aus diesem Grund auf Kai.
Als ich gerade ansetze, meinem Vater vom wildernden Schäferhund zu erzählen, klopft es an der Tür.
Pa runzelt die Stirn. Er hat Büroöffnungszeiten, aber manchmal gibt es Notfälle. »Herein«, ruft er, leicht ungehalten.
Die Tür schwingt auf und Hubert Trefflich poltert in das Büro. Er hat sein unvermeidliches dunkelrotes Basecap auf dem Kopf und steckt in Tarnhosen und braunen Schnürstiefeln. Der Geruch von ungewaschenen Klamotten und Alkohol sticht mir in die Nase. »ân Abend, kleine Waldlady!« Trefflich lächelt mich an, aber ich murmle nur eine kurze BegrüÃung zurück.
Ich kann es auf den Tod nicht ausstehen, wenn er »kleine Waldlady« zu mir sagt. AuÃerdem frage ich mich aufs Neue, wie einer einen Jagdschein haben und mit einem Gewehr herumlaufen kann, der so offensichtlich ein Säufer ist wie Hubert Trefflich. Es gibt sieben Spechtarten in unserem Wald â und Trefflich, den Schluckspecht. Kitzmörder, hat Alina ihn getauft, nachdem wir uns sicher waren, dass er Kasimir, mein zahmes Rehkitz, erschossen hatte.
In Trefflichs Anwesenheit will ich meinem Vater nicht von dem wildernden
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