Isegrim
sehen.«
Nachdem wir noch zwei Stunden Deutsch bei Herrn Neudert hinter uns gebracht haben, verabschieden sich Kai und Tilman zum FuÃballtraining und Saskia und ich laufen zur Bushaltstelle.
Als der Bus vor dem »Jägerhof« hält, wandert mein Blick unwillkürlich zu Tonia Neumeisters schmalem Haus, das gleich nebenan steht. Sie sitzt am offenen Fenster, die Unterarme auf einem geblümten Kissen, und beobachtet mit Argusaugen, wer alles aussteigt. Neugier und Kontrolle.
Natürlich habe auch ich so dies und das über die Bewohner meines Dorfes gehört, das bleibt einfach nicht aus. Dank seiner redseligen Oma Ruth ist Kai immer auf dem neuesten Stand der Dinge und erzählt mir alles weiter. Oma Ruth kann Tonia Neumeister zwar nicht leiden, steht aber fast jeden Tag vor ihrem Fenster, je nach Wetterlage und Neuigkeiten.
Durch Kai erfahre ich, was in Altenwinkel über Familie Schwarz geredet wird. Vor allem über meine Mutter, die Verrückte . Für die Leute im Dorf ist Ma eine überdrehte Schriftstellerin, zu hochnäsig, um sich mit ihnen abzugeben. Ihre Zurückgezogenheit wird ihr als Ãberheblichkeit ausgelegt. In Wahrheit ist Ma für die Leute ganz einfach ein Rätsel: Je weniger sie wissen, umso mehr dichten sie dazu.
Mein Vater hat dann alle Hände voll zu tun, um alles zu dementieren. Er ist »ein Jung aus dem Dorf«, genieÃt als Revierförster und Jäger Ansehen und sitzt regelmäÃig mit den anderen bei Bier und Spiel im Wirtshaus â da verzeiht man ihm sogar seine seltsame Frau.
Und ich ⦠nach Alinas Tod war ich nicht mehr Jola Schwarz, sondern nur noch »die kleine Freundin von dem armen Ding«. Sie haben auch mich zu einer bedauernswerten Namenlosen gemacht. Aber das hörte ein paar Wochen später auf. Wenn allerdings mal wieder ein Fest ansteht, mokiert sich regelmäÃig das halbe Dorf darüber, dass ich lieber im Wald herumstreife als mich in die Gemeinschaft einzubringen. »Die kleine Schwarz ist völlig verwildert« â Kai macht sich gerne einen Spaà daraus, mir den Dorfklatsch brühwarm zu erzählen.
Die meiste Zeit des Jahres bin ich den Leuten jedoch völlig egal und umgekehrt ist es genauso. Das habe ich damals Alina abgeguckt: Es interessiert mich nicht mehr, was die Altenwinkler über mich denken â und bis vor Kurzem dachte ich nichts über sie.
Kurz vor drei mache ich mich auf den Weg. Marie Scherer und ihre Tochter Agnes wohnen in einem Fachwerkhaus, an dem schon eine Weile nichts mehr gemacht worden ist. Doch auch wenn die Balken des Scherer-Häuschens einen neuen Anstrich brauchen und hier und da der graue Putz abblättert, das Grundstück ist tipptopp in Schuss. Der sauber gefegte Plattenweg zum Eingang ist gesäumt von blühenden Maiglöckchen und Vergissmeinnicht.
Ich bin aufgeregt, denn mehr als »Guten Tag« und »Schönes Wetter heute« habe ich bisher mit den beiden Frauen nicht gesprochen. Marie Scherer ist ein hochbetagtes Mütterchen, um das sich ihre Tochter Agnes fürsorglich kümmert. Im vergangenen Jahr habe ich Marie an schönen Tagen noch mit ihrem Rollwägelchen durchs Dorf tappen sehen, aber offensichtlich ist sie inzwischen zu klapprig dafür und das holprige Pflaster der DorfstraÃe macht es auch nicht einfacher.
Soweit ich weiÃ, hat Agnes eine Tochter, aber die lebt mit ihrer Familie irgendwo in Polen.
Ich drücke auf den Klingelknopf und kurz darauf öffnet Agnes die Tür. Sie hat ihr dichtes graues Haar zu einem Knoten gebunden und trägt einen bunt gemusterten Kittel über einem blauen T-Shirt. Ihre FüÃe stecken in roten Gummiclogs. Sie muss Mitte sechzig sein und dafür sieht sie erstaunlich fit aus.
Agnes bittet mich herein. Durch einen niedrigen dunklen Flur führt sie mich in eine kleine Stube, wo ihre Mutter Marie auf einer plüschigen Couch sitzt.
Maries Haar hat die Farbe von Birkenrinde und ringelt sich in dünnen Löckchen, durch die matt die Kopfhaut schimmert. Sie trägt graue Hosen, die dunkelbraune Strickjacke mit dem Zopfmuster ist bis zum Hals zugeknöpft. Aber der Blick ihrer Augen wirkt klar und aufmerksam. Maries Hand fühlt sich kalt an, als ich sie begrüÃe, die Haut wie knittriges Backpapier.
Agnes bedeutet mir, neben ihrer Mutter Platz zu nehmen. Ich schiebe mich hinter den Couchtisch mit den gedrechselten FüÃen, auf dem ein Glaskrug mit Saft
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