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Isegrim

Isegrim

Titel: Isegrim Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Babendererde
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und Gläser stehen. Die Luft riecht nach Möbelpolitur und Fensterputzmittel. Auf einer schweren Anrichte aus dunklem Holz fallen mir neben einem Margeritenstrauß in einer Kristallvase verschiedene Stellrahmen mit Fotos auf.
    Â»Tja«, sage ich verlegen und fische das Diktiergerät und den Zettel mit Saskias Fragen aus meinem Rucksack. Die Idee mit dem Aufnahmegerät ist mir gekommen, kurz bevor ich losging. Mir ist eingefallen, dass Ma so ein Ding besitzt. »Ist es in Ordnung, wenn ich unser Gespräch aufzeichne?«
    Â»Ja«, sagt Agnes, »mach das.« Sie gießt Saft in drei Gläser und holt ein in Leder gebundenes Fotoalbum von der Anrichte, das sie vor mir auf den Tisch legt. Das braune Leder ist rissig und abgegriffen. Ich stelle das Diktiergerät an und lege es auf den Tisch.
    Â»Mutter hat gern fotografiert«, sagt Agnes und setzt sich in den zum Sofa passenden Plüschsessel auf der gegenüberliegenden Tischseite. »Bis im April 1945 die Amerikaner kamen und sämtliche Fotoapparate einkassierten. Immerhin, den letzten Film haben sie ihr gelassen. Schau dir die Fotos an«, ermuntert sie mich.
    Vorsichtig klappe ich das Album auf und beginne zu blättern. Zwischen brüchigem Pergament sepiafarbene Zeugen aus dem Altenwinkler Dorfleben. Mai 1944 bis Anfang April 1945. Ich erkenne den alten Dorfladen (früher das Schulgebäude), die Kirche, das Wirtshaus und ein paar der alten Häuser. Pfingstfest 1944. Der mit Zweigen und Eiern geschmückte Dorfbrunnen neben der Blutbuche, die damals noch ein kleines Bäumchen war. Junge Männer in Wehrmachtsuniform im Biergarten vom »Jägerhof«. Die Reichsflagge. Männer und Frauen bei der Feldarbeit.
    Marie hat unterdessen umständlich ihre Hornbrille aufgesetzt und betrachtet die Bilder ebenfalls. Ich frage mich, wann sie sie das letzte Mal angesehen hat.
    Â»Ich gehe davon aus«, sagt Agnes, »dass du Bescheid weißt über die Stollen unten im Tal, die Munitionsfabrik und die Häftlingslager?«
    Â»Ja, klar«, antworte ich. »Wir haben viel recherchiert für unsere Projektarbeit, aber das alles ist lange her und irgendwie fehlte uns der Bezug zur Gegenwart.« Ich räuspere mich. »Da kam Saskia die Idee, im Dorf nach Zeitzeugen zu suchen und ein oder zwei Erinnerungsberichte in unser Projekt aufzunehmen.«
    Agnes nickt. »Eine gute Idee.«
    Â»Sie hat versucht, mit ein paar Leuten ins Gespräch zu kommen«, erkläre ich weiter, »aber keiner, der vom Alter her infrage kam, wollte ihr etwas erzählen.«
    Â»Kein Wunder«, sagt Marie. »Einige, die sich noch erinnern können, haben die schrecklichen Bilder fast ein Menschenleben lang mit sich herumgetragen und wollen nun nicht mehr daran rühren, weil es zu schmerzlich für sie ist. Andere würden diesen Teil der Vergangenheit am liebsten ausradieren. So ist der Mensch nun mal.« Ihre hellen Augen betrachten mich aufmerksam. »Auch ich wollte vergessen. Und dabei ist es so wichtig, dass wir uns erinnern an das, was geschehen ist.«
    Ich blättere weiter und habe ein Foto von zwei jungen Frauen in Kittelkleidern beim Rupfen einer Gans vor mir. Ihre ernsten Gesichter blicken in die Kamera.
    Â»Das ist Tonia und das bin ich.« Marie zeigt zuletzt auf ein hübsches Mädchen mit dunklen Zöpfen. Aber auch Tonia, die alte Hexe, war einmal jung und schön, wie ich verblüfft feststellen muss.
    Marie hebt den Blick von den Fotos und schaut mich an. Ich spüre, dass die Bilder aus ihrer Jugend jetzt mit aller Macht wieder hochkommen. Sie war siebzehn oder achtzehn damals, nicht viel älter als ich.
    Wie war es, 1945 jung zu sein?
    Ich frage Marie, ob die Leute im Dorf von der unmenschlichen Behandlung der Zwangsarbeiter durch die SS-Wacheinheiten wussten. Sie nickt und erzählt, dass die Altenwinkler oft unfreiwillig Zeuge waren, wie die Männer von den Aufsehern geschunden wurden.
    Â»Es war eine böse Zeit damals, Kleine. Der Krieg tötet und beschmutzt alles, auch die Menschlichkeit. Er hat viel Hässliches in uns zum Vorschein gebracht. Mut und Hilfsbereitschaft konnten den Tod bedeuten und die Angst, getötet zu werden, beherrschte unser Leben.« Sie schluckt hart. »Einmal sah ich, wie ein Häftling mit der Peitsche geschlagen wurde, bis ihm das Leder das Fleisch mitsamt seinen gestreiften Lumpen vom Körper riss. Nur weil er sich einen Apfel genommen hatte.

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