Isegrim
Ich habe nichts getan.« Sie schüttelt den Kopf. »Ich konnte nichts tun.«
Maries blutleere Lippen beben. Die Erinnerung wiegt jetzt schwerer als die Gegenwart, das ist deutlich zu spüren. Ihre Augen scheinen ins Leere zu blicken, doch ich ahne, dass sie zurück in die Vergangenheit starren und Ungeheuerliches sehen. Bilder, die nicht auf den schwarzen Seiten in diesem Fotoalbum haften, sondern in Maries Seele. Ihre von Altersflecken übersäte und verkrümmte Hand tastet über das Pergament, als wolle die alte Frau sie durch die Zeit strecken und wiedergutmachen, was sie so lange als Schuld mit sich herumgetragen hat.
Ist man feige, wenn man nicht getötet werden will?
Ein Sonnenstrahl fällt durch die blanke Fensterscheibe. DrauÃen ist Licht und Leben und Vergangenheit ist Vergangenheit, aber in Maries leisen Worten hat sie mich an die Hand genommen und ich bewege mich mit ihr auf dem Weg ins Dunkel. An einen Ort, den Marie Scherer jahrzehntelang in sich getragen hat; einen Ort, an dem ich nicht sein will.
Ich merke erst jetzt, wie trocken meine Kehle ist, doch ich wage nicht, von meinem Saft zu trinken, weil ich fürchte, durch die Banalität meines Bedürfnisses die Gegenwart in den Raum zu holen und Maries Erinnerungsfaden zu kappen.
Ich blättere weiter, stelle meine Fragen und Marie antwortet mir. Ja, trotz des Krieges wurde zu Pfingsten das Brunnenfest gefeiert. Ja, auch Kinder und Jugendliche trugen Uniformen, das war ganz normal.
In einem jungen Mann mit hellem Haar und Försteruniform erkenne ich meinen Opa August. Marie erwähnt ihn nicht und ich traue mich nicht, sie näher über ihn auszufragen.
»Während des Krieges und in der Nachkriegszeit ruhte die Jagd, aber trotz schwerster Strafen haben die Männer mit Schlingen, Fallgruben und alten Kriegswaffen gewildert. Der Hunger war so groÃ.«
Auf dem nächsten Foto ist wieder unsere Dorfkirche zu sehen, diesmal mit einem weiÃen Laken an der Turmspitze.
»Anfang April 1945 wurden einige der umliegenden Dörfer von amerikanischen Jagdbombern beschossen«, greift Marie den Faden wieder auf. »Nur Altenwinkel bekam nichts ab. Der Pfarrer hatte dieses weiÃe Laken am Kirchturm gehisst, vielleicht wurde unser Ort deshalb von den Amerikanern verschont. Niemand kam zu Schaden, alle Häuser blieben heil, es war wie ein Wunder.«
Die Fotos auf der nächsten Seite zeigen amerikanische Soldaten in ihren Wagen.
»Als dann ein paar Tage später die Amerikaner mit ihren Fahrzeugen über das Dorfpflaster rollten, fragten wir uns, was nun folgen würde. Zu Beginn des Krieges hatten nicht wenige aus Altenwinkel lautstark Hurra gebrüllt. Und nun überkam sie die Angst vor der Bestrafung durch die Sieger.«
Marie seufzt, ihre Hände streichen über das knisternde Pergament. »Doch es passierte nichts«, fährt sie schlieÃlich fort. »Die Amerikaner besetzten Altenwinkel und die umliegenden Ortschaften, sie quartierten sich in unsere Häuser ein und beschlagnahmten sämtliche Waffen, Ferngläser, Fotoapparate und was ihnen sonst noch nützlich erschien. Aber sie behandelten uns freundlich.«
Ich blättere um. Die restlichen Seiten des Albums sind schwarz. Wie schade, dass die Bilderreise in die Vergangenheit meines Dorfes so abrupt endet. Als ich das Album zuklappe, rutscht ein Foto heraus, das ich noch nicht gesehen habe.
Es ist das vergilbte Schwarz-WeiÃ-Foto zweier Männer mit kahl rasierten Schädeln, deren magere Körper in abgerissenen Häftlingskleidern stecken. Sie ähneln einander und in ihre groÃen, von Hunger gezeichneten Augen ist unsägliches Leid gebrannt. Doch während der Ãltere desillusioniert zu Boden schaut, sieht der Jüngere direkt in die Kamera, den Blick voller trotziger Zuversicht.
Dieser Blick fährt mir geradewegs ins Herz und auch aus Maries Kehle kommt ein leises Seufzen.
»Wer sind diese beiden?«
Marie richtet sich auf, sie schaut aus dem Fenster, als überlege sie, ob sie meine Frage beantworten, ob sie diese Erinnerung zulassen kann. Ihre alten Augen sind auf einmal glasig von Tränen. Sie holt tief Luft, wendet den Kopf und schaut mich an.
»Tomasz und Ignaz Kaminski.« Ihre Stimme klingt dünn und brüchig, wie das Pergamentpapier zwischen den schwarzen Seiten. »Sie waren Vater und Sohn, kamen aus der Stadt Zary in Polen. Tomasz war gerade erst achtzehn Jahre
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