Isegrim
Wölfin hat von ihrem blutigen Mahl nur den Kopf des Böckchens übrig gelassen und verschwindet gesättigt im Dickicht des Waldes. Wenn ich mit meiner Vermutung richtig liege, wird sie schnurstracks zur Höhle mit ihren Jungen laufen und das halb verdaute Fleisch wieder hervorwürgen, um die Welpen zu füttern. Ich muss diese Höhle finden â unbedingt.
Ein letztes Mal suche ich die Suhle und den jungen Birkenwuchs mit dem Fernglas ab, in der Hoffnung, vielleicht den dazugehörigen Rüden zu entdecken, falls es ihn gibt. Vielleicht ist er vorsichtiger bei der Jagd und ich habe ihn deshalb noch nicht gesehen.
Als unvermutet jemand auf zwei Beinen auf die Wiese tritt, halte ich den Atem an. Olek . Ich bin völlig verblüfft, denn jetzt, wo ich weiÃ, dass der vermeintliche Schäferhund ein Wolf ist, habe ich nicht damit gerechnet, ihn wiederzusehen.
Es ist kurz vor sieben, nur Jäger und Gejagte sind um diese Zeit im Wald unterwegs. Olek, diesmal nicht bewaffnet mit Pfeil und Bogen, sondern mit einem Spaten über der Schulter, begutachtet die Ãberreste des Rehkitzes und beginnt, ein Loch zu graben. Mit wachsender Verwunderung schaue ich ihm zu. Sorgsam hebt er die ausgestochene Grasnarbe beiseite, schaufelt Erde heraus, bis das Loch groà genug ist, und lässt die kärglichen Ãberreste des Kitzes darin verschwinden. Er legt die Grasnarbe wieder auf das Loch, verschwindet im Gebüsch und zerrt einen verdorrten Ast heran, den er über das kleine Grab legt. Zufrieden mit seinem Werk streift Olek sich schlieÃlich die Hände an den Hosen ab.
Ich staune noch immer über das, was ich da gerade beobachtet habe. Ich weià nicht einmal, was verwirrender ist: Dass ich soeben gesehen habe, wie eine frei lebende Wölfin jagt, oder dass dieser fremde Junge ganz offensichtlich ihre Spuren beseitigt?
Verdammt noch mal, was ist da unten eigentlich los? Wer ist dieser Olek wirklich und was geht hier vor im Wald?
Ich erwache aus meiner Erstarrung, klettere vom Ansitz und laufe so schnell ich kann über den Hang ins Tal, mit der Absicht, Olek zur Rede zu stellen. Aber natürlich ist er nicht mehr da, als ich an der Wildsuhle ankomme. Auf mein Rufen antwortet nur eine Hohltaube mit ihrem dumpfen Hu-ru-hu-ru .
Ich laufe noch ein wenig ziellos durch die Wildnis des Truppenübungsplatzes, bevor ich beschlieÃe umzukehren. Wenn Olek hinter der Wölfin aufräumt, dann weià er mit Sicherheit, wo sie ihre Wurfhöhle hat. Ich muss ihn nur erwischen und zur Rede stellen. Ganz einfach.
Als ich mich diesmal auf den Heimweg mache, ist der Wald, den ich kenne und verstehe, ein anderer geworden. Die Geräusche sind anders, die Luft ist anders. Alles, was mir vertraut war, fühlt sich auf einmal fremd an und geheimnisvoll. Ich teile mein Refugium nicht mehr nur mit den üblichen Kandidaten, sondern auch mit einer Wölfin. Ich bin nicht mehr die Herrin des Waldes, offenbar schon eine ganze Weile nicht mehr. Jetzt ist es die Wölfin.
Wenn sie Welpen hat, muss sie schon seit ein paar Monaten hier sein. Wölfe leben in Rudeln, kleinen Familienverbänden, in denen die Welpen von allen Mitgliedern gemeinsam aufgezogen werden. Wo ist der Partner der Wölfin, der Rüde? Ist er getötet worden? Ein Querschläger während des Ãbungsbetriebes? Wurde er von einem Auto angefahren, hat sich in den Wald geschleppt und ist verendet?
Noch etwas anderes schiebt sich in meine Gedanken. Es ist das Nest des Raubwürgers mit der hellbraunen Haarlocke, für die es vielleicht eine plausible Erklärung gibt. Olek hat sich die Haare geschnitten und der Vogel hat sie zum Nestbau verwendet (die Haarfarbe könnte hinkommen). Wenn das stimmt, dann muss auch Olek schon seit dem Frühjahr hier in der Gegend sein.
Aber warum habe ich ihn dann nicht eher entdeckt? Wo haust er, der Elf mit den Kieselaugen und der abgerissenen Kleidung? Der Gast auf Erden . Ich spüre, dass etwas in Bewegung geraten ist, etwas, dass sich meiner Vorstellungskraft entzieht.
Olek spukt mit einer derartigen Intensität in meinem Kopf herum, dass ich zu Tode erschrecke, als plötzlich ein Mann vor mir steht. Schmuddelige Armeehosen, schwarze Arbeitsstiefel, eine speckige Lederweste über dem karierten Hemd und das obligatorische rote Basecap auf der Birne. Der Kitzmörder mit seiner Jagdflinte über der Schulter.
»Hallo«, sagt er grinsend. »So früh schon
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