Isegrim
nichts rührt sich, alle Schatten sind an ihrem vertrauten Platz. Ein feiner Geruch von Erde, Harz und Pfefferminze liegt in der Luft. Stöhnend lasse ich mich auf mein Bett zurückfallen. Werde ich jetzt paranoid â wie meine Mutter?
* * *
Laurentia, liebe Laurentia mein,
wann wollen wir wieder beisammen sein?
Sie ist es nicht und sie ist es doch. Dieser Duft, Zimtprinzessin, der lügt nicht. Ich habe dich gerochen, habe dich beinahe berührt. Bald wirst du mich berühren. Mir den Schmerz nehmen, meine Stirn kühlen, hinter der die brennenden Gedanken lauern.
Wir werden gemeinsam unser Lied singen.
Er hat nicht alle Zeit der Welt. Sein kleiner Engel darf nicht älter werden, sonst passiert es erneut, das Schreckliche, das Unaussprechliche. Seine Zimtprinzessin ist niemals älter geworden. Aber wo ist sie?
Laurentia, liebe Laurentia mein,
wann wollen wir wieder beisammen sein?
Am Freitag!
Ach, wenn es doch endlich schon Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag wär
und ich bei meiner Laurentia wär, Laurentia!
9. Kapitel
D as Rotkehlchen weckt mich am Freitagmorgen und zehn Minuten später bin ich fertig zum Aufbruch. Ich will noch schnell drei Müsliriegel in meinen Rucksack stecken, aber es ist nur noch einer in der Schachtel. War die Packung nicht gestern noch halb voll? Vergreift Ma sich neuerdings an meinen Müsliriegeln?
Kurz nach fünf bin ich auf dem Weg zu meinem Ansitz. Vögel flattern erschrocken aus den Bäumen. Das Keckern eines Eichhörnchens begleitet mich auf den ersten Schritten im Wald, später ist es das beruhigende Klopfen eines Spechts von irgendwo weit oben. Alles wie immer, denke ich. Doch das stimmt nicht. Seit gestern ist alles anders.
Dieses Gefühl, im Wald beobachtet zu werden, dass ich seit einiger Zeit habe. War es ein Wolfsblick? Bist du hier irgendwo, Isegrim, und verfolgst jeden meiner Schritte?
Menschen stehen nicht auf dem Speiseplan des Wolfes, und doch geht mein Puls schneller, ein kleiner Schauder läuft über meinen Rücken. Mein Blick dringt in das Kieferngestrüpp und streift über den Boden. Da, an der Kreuzung zweier Forstwege entdecke ich Losung. Ich gehe in die Knie und betrachte den grauweiÃen Kot. Vermutlich ist er schon mehrere Tage alt, ungefähr drei Zentimeter dick und insgesamt fast zwanzig Zentimeter lang. Zu dick und zu lang, um von einem Fuchs zu stammen.
Ich spüre das Adrenalin im ganzen Körper. Ich suche mir ein Stöckchen und zerlege die vertrocknete Wurst. Finde Wildschweinborsten und gröÃere Knochensplitter, typische Merkmale für Wolfslosung. Auf den letzten dreihundert Metern zu meinem Eichen-Ansitz bin ich völlig in Gedanken versunken. So sehr, dass mein Herz einen holprigen Hüpfer macht, als dicht neben mir plötzlich Ãste brechen. Wie zur Salzsäule erstarrt, bleibe ich stehen.
Majestätisch langsam tritt ein Rothirsch aus dem Gebüsch. Es ist Oskar, ein Zehnender, den ich schon einige Male gesichtet habe. Rothirsche verirren sich nur selten auf den Truppenübungsplatz, aber dieser scheint sich hier heimisch zu fühlen. Er ist riesig und hat ein schönes, rötlich braun gefärbtes Sommerfell. Sein Geweih sieht aus wie von Samt überzogen. Es ist der Bast, eine dünne behaarte Haut, die wird er sich an Bäumchen und Sträuchern abscheuern, wenn das Geweih erst ausgewachsen ist.
Leise atme ich aus. Für ein paar Sekunden schauen wir einander in die Augen, dann wendet Oskar seinen stolzen Kopf und läuft langsam davon. Er kennt mich und hat keine Angst vor mir.
Zehn Minuten später sitze ich in meinem Blätternest und warte. Morgennebel liegt in Schwaden über der Senke, die Reviergesänge der Vögel schallen aus dem Geäst der Bäume. In der Nacht haben Wildschweine den Boden an der Senke umgegraben.
Nicht lange und die vier Rehe kommen aus dem Wald. Die weiÃen Flecken im braunen Fell der Kitze leuchten wie Sterne im bläulichen Gras. Mir fällt auf, dass eines der beiden Rehkitze humpelt und unwillkürlich muss ich an Kasimir denken.
Eines Tages brachte mein Vater ein verlassenes und halb verhungertes Rehkitz mit nach Hause. Ich taufte das winzige Bockkitz Kasimir und zog es mit Ziegenmilch auf. Am Anfang musste Kasimir alle zwei Stunden die Flasche bekommen, auch in der Nacht, das war ziemlich anstrengend. Später, nachdem Alina in die DorfstraÃe gezogen war, fütterten wir ihn mit
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