Isegrim
Haferflocken, Möhren und Beeren â und mit Heu natürlich.
Wir hatten eine Menge Spaà mit Kasimir, der uns immer hinterherlief wie ein Hündchen. Einmal wäre er fast mit in den Schulbus gestiegen und ich musste Pa anrufen, damit er ihn abholt. Doch eines Tages war Kasimir einfach weg. Ma sagte, er wäre in den Wald gelaufen und hätte Freunde gefunden. Aber mein Vater konnte mir nicht in die Augen sehen und da wusste ich, dass das Märchen von den Freunden im Wald nicht stimmte. Ich war elf und nicht blöd.
Zuerst nahm ich an, dass jemand Kasimir mit dem Auto überfahren hatte, aber das hätte sich sofort herumgesprochen. Alina dagegen hatte von Anfang an Hubert Trefflich in Verdacht, sie wollte es mir unbedingt beweisen. Tagelang schlichen wir um sein verkommenes Haus herum und versuchten, einen Blick in die Garage zu werfen, wo Trefflich seine erlegten Tiere ausbluten lieÃ.
Hubert Trefflich war vor der Wende Tierpräparator am Gothaer Naturkundemuseum. Er verlor seinen Job wegen der Sauferei, heiÃt es. Aber er besitzt immer noch seine Lizenz und gelegentlich präpariert er für Museen oder Privatleute. Auch wenn Alina und ich nie herausgefunden haben, ob er Kasimir wirklich auf dem Gewissen hat, stört es mich gewaltig, dass mein Vater Mitleid mit Trefflich hat und ihm hin und wieder einen Job vermittelt. Und ich glaube, er drückt auch bei seinem Jagderlaubnisschein ein Auge zu. »Der arme Kerl hat doch nichts auÃer der Jagd und seinen ausgestopften Tieren. Er hat eben nie verkraftet, dass ihm die Frau weggelaufen ist.« Bla, bla, bla. Wenn ich diese Frau gewesen wäre, wäre ich schon vor der Hochzeit davongelaufen.
Die Sonne geht über den Wipfeln der Kiefern auf, das Gras funkelt von Tautropfen, als hätte es Diamantsplitter geregnet. Ein groÃer Schatten löst sich aus dem Dickicht am Rand der Lichtung. Das Tier hält die Nase in den Wind. Sein Fell ist rötlich grau, während die Unterseite der Schnauze, der Bauch und die Seiten des Halses fast weià schimmern. Der Schwanz mit der schwarzen Spitze und die Flanken wirken dunkler als der Bauch und rund um die Augen leuchtet eine helle Maske. Der gerade Rücken, die langen Beine und der kräftige Kopf mit den dreieckigen Ohren lassen keinen Irrtum zu: Dort unten steht ein Wolf.
Es ist wahr. Es ist wahr. Es ist wahr.
Es ist ⦠eine Wölfin. Meine Hände zittern vor Aufregung. Die Fähe ist dabei, ihr Winterfell zu verlieren, und darunter ist sie mager. Durch das Fernglas kann ich ganz deutlich ihr hängendes Gesäuge erkennen. Sie hat Welpen, durchzuckt es mich und jetzt bin ich völlig aus dem Häuschen.
Wachsam beobachtet die Wölfin ihre Umgebung, das lahmende Bockkitz längst im Visier. Und dann geht alles sehr schnell. Die Wölfin jagt los und die übrigen Rehe fliehen. Im Sprung reiÃt die hungrige Jägerin das Kitz zu Boden, sie schlägt ihm den Fang in die Kehle. Die entsetzlichen Schreie des Böckchens klingen noch in meinen Ohren nach, als ich mit angehaltenem Atem zusehe, wie die Wölfin ihm die Bauchdecke aufreiÃt und sein warmes Fleisch samt Fell und Knochen in ihrem Magen verschwinden.
Gleichzeitig beginnt es in meinem Kopf zu arbeiten. Irgendwo auf dem Gelände des Truppenübungsplatzes muss es eine Höhle mit Welpen geben. Das ist sensationell, völlig abgefahren, unglaublich. Die Wölfin ist nicht bloà auf der Durchreise, sie zieht im Wald ihren Nachwuchs groÃ. Doch meine Freude darüber schlägt schnell in Sorge um.
Niemand will den Wolf zurück und schon gar keiner aus Altenwinkel, wo fast jeder irgendein Vieh im Stall hat und auf den Trockenwiesen rund ums Dorf Hunderte Schafe stehen. Wo im Herbst die Weihnachtsgänse auf der Weide wie ein Festschmaus angerichtet sind.
Wird es der Wölfin und ihren Jungen gelingen, sich weiterhin so gut versteckt zu halten? Der letzte Rest meiner Euphorie verfliegt. Fest steht, dass ich mein Wissen für mich behalten muss, solange es eben geht. Von mir wird niemand etwas von der Existenz der Wölfin erfahren. Nicht mal meinem Pa werde ich die sensationelle Neuigkeit erzählen.
Keine Ahnung, wie lange die Wölfin schon da ist, aber bisher hat sie Schafe, Gänse und Haustiere in Frieden gelassen. Vielleicht bleibt das auch in Zukunft so, schlieÃlich gibt es mehr als genug Wild im Wald. Ãber achthundert Wildschweine und sechshundert Rehe.
Die
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