Isegrim
leichter. Auf einmal muss ich an meinen Traum denken. Möglicherweise ist es keine schlaue Idee, hier allein herumzukriechen. Der Regen wird heftiger, ich will jetzt nur noch so schnell wie möglich nach Hause.
Ein groÃer Schatten, der im Dickicht verschwindet, lässt mich innehalten. Ich lausche, doch auf meiner Kapuze zerplatzen die Tropfen wie kleine Schüsse, und das ist alles, was ich höre. Ich kann nicht viel erkennen im Dämmer des Waldes, aber wie so oft in den letzten Tagen, ist mir, als werde ich gesehen oder gehört, als werde ich von irgendwoher beobachtet. Mein Herz klopft so laut, dass es die Tropfen übertönt, angestrengt und mit weit aufgerissenen Augen versuche ich, das Dickicht vor mir zu durchdringen.
Jemand blickt zurück.
»Hey«, sage ich, »vielleicht hat dir das noch niemand gesagt, also tue ich es jetzt: Willkommen in meinem Wald. Schön, dass du da bist. Ich bin sicher, wir werden bestens miteinander auskommen.«
Natürlich bekomme ich keine Antwort.
Endlich, mit immer noch laut pochendem Herzen erreiche ich die RingstraÃe. Im Eiltempo laufe ich bis zu meinem HolzstoÃ, und noch bevor ich auf mein Rad steigen kann, fahren sie einer nach dem anderen an mir vorbei. Dreck spritzt, sie lassen ihre Motoren aufheulen. Der Man in Black reiÃt den Lenker hoch und fährt für Sekunden auf dem Hinterrad. Jungs sind merkwürdige Wesen, denke ich, als ich durch den Regen nach Hause radele.
10. Kapitel
H eute ist Mas Geburtstag, sie wird sechsunddreiÃig. Ich hole die Geburtstagstorte aus der Kühlkammer und decke den Frühstückstisch, während Pa ins Nachbardorf fährt, um beim Bäcker frische Brötchen zu besorgen. Er kommt mit einem Strauà Blumen zurück, der sich sehen lassen kann. Meine Mutter strahlt vor Freude, als sie die Küche betritt.
Schon vor Wochen hat Pa drei Karten für die amerikanische Tanzshow Shadowland besorgt, die morgen Nachmittag in der Erfurter Messehalle gastiert. Als meine Mutter die Karten aus dem Umschlag zieht, beobachtet er sie mit gerunzelter Stirn und auch ich bin gespannt wie verrückt. Wird sie den Kopf schütteln und behaupten, dass sie das nicht schafft: die Stadt, die vielen Menschen?
Doch Ma lächelt und umarmt Pa. »Wie schön«, sagt sie, »ich freue mich, dass wir mal wieder zusammen etwas unternehmen.«
Nach einem ausgiebigen gemeinsamen Frühstück begleite ich meine Mutter in den Dorfladen, wo sie die letzten Zutaten für das Abendessen besorgen will. Thomas hat seinen Besuch für den Nachmittag angekündigt, er ist ein ehemaliger Studienfreund meines Vaters und stammt ursprünglich aus Ohrdruf, lebt jetzt jedoch am Starnberger See. Wenn er seine Eltern besucht, macht er immer einen Abstecher zu uns. Thomas Bachmann ist Witwer, und dass Tante Lotta ihm gefällt, sieht ein Blinder mit Krückstock.
Am Abend wird es knoblauchgespickten Rehrücken mit Rosenkohl und Kartoffelkroketten geben. Ma braucht nur noch ein paar Zutaten für den Nachtisch â ihre köstliche Rhabarber-Charlotte. Meist schreibt sie mir einen Zettel und ich muss den Einkauf allein erledigen, doch wenn sie wie heute gut drauf ist, kommt sie mit. Es kostet sie Ãberwindung, sie tut es vor allem, um den Leuten im Dorf zu signalisieren, dass mit ihr alles vollkommen in Ordnung ist.
Auf dem Weg zum Dorfladen nehmen wir den Umweg am Haus der Neumanns vorbei, damit ein paar mehr Leute meine völlig normale Mutter sehen können. Sabine, Clemens Mutter, zupft mit gesenktem Kopf und wilden Bewegungen Unkraut aus ihrem Blumenbeet neben der Einfahrt und Ma grüÃt überschwänglich, als wir an ihr vorbeigehen.
Sabine hebt den Kopf, sie richtet sich stöhnend auf, eine Hand ins Kreuz gedrückt. Sie hat rappelkurzes graues Haar, ihr schönes Gesicht ist sonnengebräunt und natürlich stellt sie meiner Mutter die obligatorische Frage, ob sie denn wieder an einem neuen Roman schreibt.
»Na klar«, sagt Ma, »das tue ich immer.« Sie lächelt offenherzig und es macht den Anschein, als sei wirklich alles in bester Ordnung.
»Ihr letztes Buch, âºDas tränende Herzâ¹, habe ich meinem Neffen zu Ostern geschenkt«, erzählt Sabine Neumann euphorisch. »Er war hellauf begeistert.«
»Wie schön«, Ma lächelt. Das Buch heiÃt »Das weinende Herz«, aber sie berichtigt Frau Neumann nicht.
Neumanns Schafe blöken,
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