Isegrim
als hätten sie auch ein Wörtchen mitzureden. Auf einer Leine im Garten hängen schwarze T-Shirts und Hosen. Ein funkelndes schwarzes Motorrad kommt um die StraÃenecke und biegt in die breite Auffahrt. Die schwarz gekleidete Gestalt stellt die Maschine vor dem Glaspalast ab und zieht sich den Helm vom Kopf.
Ein kurzes »Hallo« in unsere Richtung, dann ist Clemens auch schon hinter dem Haus verschwunden.
Ich höre Frau Neumann leise seufzen. Offensichtlich ist sie ebenso wenig begeistert von der Freizeitbeschäftigung ihres Sohnes wie ich.
»Einen schönen Tag noch.« Ma nutzt die Gelegenheit und wir laufen weiter, verfolgt vom Blöken der Schafe, die auf einem Stück Wiese nahe der StraÃe grasen.
Die Ich-bin-völlig-normal-Runde meiner Mutter ist auÃerordentlich erfolgreich. Am heutigen Samstagvormittag ist das ganze Dorf auf den Beinen, man zupft und streicht und fegt, als gilt es, einen Wettbewerb um das schönste Dorf zu gewinnen. Hubert Trefflich putzt seinen kleinen metallicgelben Jeep und grüÃt uns höflich. Er nennt Ma Frau Försterin, der Blödmann.
Vor der Tischlerei lädt Hans Grimmer mit seinem Bruder Rudi Bretter aus einem Lieferwagen. Magnus hilft den beiden. Der Hüne mit dem kindlichen Gemüt summt mit tiefer Stimme eine mir vage bekannte Melodie. Ich brauche einen Augenblick, bis ich das Kirchenlied Laurentia mein heraushöre.
Rudi schimpft, weil Magnus uns mit Stielaugen hinterherschaut und seinem Onkel ein Brett auf den Fuà fallen lässt. Hans flucht. Ma und ich kichern in uns hinein und gehen schnell weiter.
Klar, das mit Magnus ist eine wirklich tragische Geschichte. Vor seinem Einsatz in Afghanistan hatte er eine hübsche Freundin aus dem Nachbardorf â Laura â, die beiden wollten heiraten. Daraus wurde nichts, denn wer will schon mit einem leben, der aussieht wie ein Freak und nicht mehr alle Tassen im Schrank hat. Laura besucht Magnus zwar noch manchmal, aber sie hat sich von ihm getrennt, als sie merkte, dass er gar nicht wusste, wer sie war, während sie an seinem Krankenbett saà und seine Hand hielt.
Tante Lotta hat mir das erzählt. Laura kauft ab und zu Keramik bei ihr und dann reden sie. Daher weià ich auch die ganze Familiengeschichte der Grimmers.
Die Mutter von Hans und Rudi, die den Tod ihrer einzigen Tochter nie verwunden hatte, starb an gebrochenem Herzen. Die Ehe von Rudi und seiner Frau blieb kinderlos. Elvira Grimmer wird, so wie es aussieht, für immer an den Rollstuhl gefesselt sein. Und Rudi selbst hatte vor zwei oder drei Jahren ebenfalls einen schweren Unfall. Er kam mit seinem Auto im Dunkeln auf nasser StraÃe ins Schleudern und fuhr gegen einen Baum. Wochenlang war der Unfall Gesprächsthema Nummer eins im Dorf. Rudi Grimmer lag viele Tage im Koma, die Ãrzte wussten nicht, ob er je wieder aufwachen würde. Das ganze Dorf hat sich in dieser Zeit um Elvira gekümmert â eine ziemlich nette Aktion. Und schlieÃlich geschah das Wunder: Rudi wachte tatsächlich wieder auf und kehrte zu seiner Elvira zurück.
Und dann ist da noch Hans, der gehofft hat, die Tischlerei irgendwann an seinen Sohn übergeben zu können, und der über all den Schicksalsschlägen in seiner Familie zu einem mürrischen Mann geworden ist, dem man lieber aus dem Weg geht.
Neben dem Blumenkübel vor dem Dorfladen stehen Uta Kümmerling, die dürre Pfarrersfrau, und Caroline Merbach mit vollen Einkaufstaschen. Ma grüÃt und ⦠oh nein ⦠sie gesellt sich geradewegs zu ihnen. Mir bleibt nichts anderes übrig, als es ihr gleichzutun und einen Schwall Dorfklatsch über mich ergehen zu lassen, der sich diesmal um den dreisten Schuhdieb dreht, der seit einigen Wochen das Dorf unsicher macht.
Mehreren Leuten aus Altenwinkel fehlen Schuhe. Einzelne alte Gartenschuhe oder Gummitreter, manchmal das komplette Paar. Auch Merbachs vermissen Schuhe, dafür haben sie fremde Stiefel in ihrem Garten gefunden. Wie bei Agnes, denke ich. Merkwürdig.
»Irgendwer erlaubt sich da einen Spaà mit uns.« Caroline zwinkert mir lächelnd zu, als ob ich etwas darüber wüsste. Sie ist ein ganz anderer Typ als Alinas Mutter, die sehr zart und zerbrechlich war.
Frau Kümmerling macht eine bekümmerte Miene. »Wenn es nur die Schuhe wären«, regt sie sich auf, »aber den Leuten fehlen alle möglichen Dinge aus ihren Gärten und Höfen: Eimer, eine
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