Isegrim
Saint-Tropez laufen sie im Hochsommer mit Stiefeln herum, weil es schick ist.«
»Wir sind aber nicht in Südfrankreich, sondern in Thüringen. In einem Nest namens Altenwinkel, um genau zu sein.«
»Das ist doch piepegal. Du wirst umwerfend aussehen. AuÃerdem hast du doch selbst gesagt, dass die Eisheiligen kommen. Da sind Stiefel genau richtig.«
Als Saskia mich nach unten zur Tür bringt, habe ich einen groÃen Beutel voller Secondhandklamotten in der Hand.
Max kommt uns auf der Treppe entgegen. »Du hast wirklich toll ausgesehen in diesem Kleid, Jola«, sagt er und zwinkert mir zu. »Und du riechst verdammt gut.«
Ich spüre, wie ich schon wieder rot anlaufe und Saskia sich das Kichern kaum noch verkneifen kann.
»Danke, Max.« Ich husche an ihm vorbei und verdrehe die Augen.
Saskia umarmt mich zum Abschied. »Hey«, sagt sie, »das sollten wir öfter tun. Es hat richtig Spaà gemacht.«
»Ja, mir auch.« Am niedrigen grünen Gartentürchen drehe ich mich um und werfe ihr noch eine Kusshand zu. Als mein Blick am weià getünchten neuen Haus der Wagners nach oben wandert, sehe ich Max am Fenster seines Zimmers stehen. Er winkt und ich winke zurück.
Mit dem Beutel über der Schulter trabe ich los â immer noch im neuen Outfit und mit offenen Haaren. Damit die Leute sich an die neue Jola gewöhnen können, hat Saskia mir geraten.
Die Klamotten von Saskias Cousine werden aus mir keinen neuen Menschen machen, und doch ist etwas anders, das spüre ich, noch bevor ich jemandem begegne. Ich habe Lust, die Sachen zu tragen, mich zu verändern, endlich ein Mädchen zu sein â wenigstens ab und zu.
In Saskias braunen Stiefeletten stolziere ich Richtung Dorfladen, um meinen Müsliriegelvorrat aufzufrischen. Magnus, heute ohne Mütze, sitzt auf der Holzbank vor der Tischlerei seines Vaters und schnitzt. Als ich an ihm vorbeigehe, hebt er den Kopf, sein unsteter Blick wandert über meine Haare, mein Gesicht und meinen Körper, als habe er Mühe, alles zusammenzubringen.
»Hallo, Magnus«, grüÃe ich ihn mit einem freundlichen Lächeln. Als er meine Stimme erkennt, wird sein Blick ruhig und fixiert nur noch mein Gesicht. Er lächelt schief, dann klopft er neben sich auf die Bank.
Ohne seine Mütze sieht er jung und verletzlich aus. Ich weià nicht, was er von mir will, aber er tut mir leid. ScheiÃkrieg. Ob auch Magnus nachts von Dämonen heimgesucht wird, so wie die alte Marie? Wie muss es für ihn sein, wenn er das Geballer vom Truppenübungsplatz hört? Warum hat er nicht einfach seine Laura heiraten und ein glückliches Leben führen können?
Ich setze mich neben ihn. Mein Blick wandert über die lange Narbe, die seine rechte Augenbraue teilt und sich bis weit in sein kurz geschorenes Haar zieht. Magnus zeigt mir, woran er gerade schnitzt. Ich bin erstaunt, wie gut man die Frauenfigur erkennen kann, die er mit dem Schnitzmesser aus dem Holzstück geholt hat. Zwischen seinen FüÃen liegt ein Häuflein Späne.
»Ist das deine Laura?«
»Laurentia mein«, flüstert er und streicht mit den Fingern zärtlich über das Holz.
Ich weià nicht, was ich sagen soll. Offensichtlich vermisst er sie, seine Laura. Anscheinend erinnert er sich doch. Ich habe keine Ahnung, was in diesem angeschlagenen Hirn vor sich geht. Magnusâ Anblick ist so unendlich traurig, dass die ganze Leichtigkeit des Nachmittages augenblicklich verfliegt.
»Sie ist schön, deine Laura.«
Rudi Grimmer kommt aus der Tischlerwerkstatt. »Da bist du ja, Magnus«, sagt er zu seinem Neffen. »Dein Vater sucht dich überall. Geh rein.«
Rudis Miene verfinstert sich, als er mich erkennt. »Lass Magnus in Ruhe. Es bringt ihn nur durcheinander, wenn aufgetakelte Gören wie du ihm den Kopf verdrehen.«
Erschrocken über Grimmers Worte springe ich auf. »Magnus hat mir nur seine Schnitzerei gezeigt«, verteidige ich mich.
Grimmers Blick scannt mich jetzt von oben bis unten. »Ach ja? Und morgen heiÃt es dann: Der Dorfdepp hat mich angefasst?«
So ein Idiot. Am liebsten würde ich Grimmer einen Vogel zeigen, kann mich aber gerade noch beherrschen. Ich schaue Magnus an, sein Blick verfängt sich in meinem. Ich habe das seltsame Gefühl, als wolle er mir sagen: Hör nicht auf ihn, du bist völlig in Ordnung.
»Tschau, Magnus, ich muss jetzt weiter«,
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