Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Isegrim

Isegrim

Titel: Isegrim Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Babendererde
Vom Netzwerk:
gemacht.«
    Er steht jetzt dicht vor mir. Ich atme den Duft von Holzfeuer und Wildnis, der ihm anhaftet. Wie von selbst mache ich noch einen Schritt auf ihn zu und küsse Olek auf den Mund. Ein kleiner überraschter Laut kommt aus seiner Kehle und öffnet seine Lippen, sodass meine tastende Zunge in seinen Mund schlüpfen kann, der warm ist und weich und frisch nach wilder Pfefferminze schmeckt. Ich verliere mich und für Sekunden hört die Welt um mich herum auf zu existieren. Dann löst Olek sich in einer heftigen Bewegung von mir, und als ich die Augen aufreiße, ist er schon im Dunkel zwischen den Bäumen verschwunden.
    Am Montag bewege ich mich wie in Trance. Habe ich Olek mit meinem Kuss verschreckt? Super, das hast du wirklich prima hingekriegt, Jola. Irgendwie gelingt es mir dennoch, die Matheprüfung halbwegs passabel hinter mich zu bringen.
    Auf dem Heimweg statte ich Tante Lotta einen Besuch ab. Ich finde sie im Brennraum ihrer Werkstatt, wo sie dabei ist, einige Figuren aus dem Ofen zu holen. Schwarze Gestalten in merkwürdigen Posen mit unvollständigen Gliedmaßen. Das Innere des Ofens strahlt noch Hitze aus, im Brennraum herrschen Temperaturen wie in einer Sauna. Lotta trägt dicke Handschuhe, weil die Figuren noch heiß sind.
    Â»Ganz schön gruselig, die Dinger«, stelle ich fest.
    Â»Ich will sie Metamorphosen der Finsternis nennen.«
    Â»Oh. Na ja, das … passt.«
    Sie lacht. »Warte nur ab, wenn sie erst auf ihren rostigen Füßen stehen.« Vorsichtig holt Lotta eine weitere Figur aus dem Brennofen. Sie betrachtet sie zufrieden von allen Seiten, doch dann hält sie inne und schaut mich an. »Du hast etwas auf dem Herzen, nicht wahr?«
    Ich nicke. »Meine Stimmung passt sozusagen zu deinen Figuren.«
    Nun entfährt Lotta ein »Oh«. Sie legt die Tonfigur ab und zieht die Handschuhe aus. »Ist Mathe so schlecht gelaufen?«
    Â»Nein, Mathe war okay – denke ich jedenfalls.«
    Â»Hat es was mit eurer Geschichtsaufarbeitung zu tun?«
    Â»Auch.«
    Mit dem Handrücken fährt Lotta sich über die schweißnasse Stirn. »Geh schon mal hinters Haus, ja? Ich hole uns nur schnell was Kühles zu trinken.«
    Ich setze mich in einen der Gartenstühle auf der kleinen Terrasse hinter dem Haus, die von Blumenkübeln aller Größen gesäumt ist, mit blauen, gelben und weißen Blumen darin, deren Namen ich nicht kenne. Ein paar Minuten später trinken wir selbst gemachten Eistee und ich erzähle Lotta, wie einige Dorfbewohner auf Marie Scherers Geschichte reagiert haben, dass sie mich seit unserer Präsentation und dem Zeitungsbericht schneiden oder durch mich hindurchsehen.
    Â»Davon habe ich gar nichts mitbekommen«, bemerkt Tante Lotta nachdenklich, als ich geendet habe. »Tja, damals bin ich weg von hier, weil ich diese Engstirnigkeit nicht mehr ertragen habe, und bin am Ende doch wieder zurückgekehrt. Mir gefällt, dass die Uhren hier langsamer ticken als in der Stadt, dass sich die Leute noch umeinander kümmern. Man hilft sich beim Holzmachen, beim Einkochen und der Gartenarbeit und kümmert sich um die Alten. Klar, Fremde müssen daran arbeiten, akzeptiert zu werden. Und alles, was von der Norm abweicht …«, sie lacht, »das hat so gut wie keine Chance. Es macht ihnen Angst.«
    Â»Und wer in der Vergangenheit gräbt, der wird schnell mal als Nestbeschmutzer beschimpft.«
    Â»Du Arme. Wer hat das denn gesagt? Die Neumeister?«
    Â»Die Hühner-Euchler.« Ich trinke einen Schluck von meinem Eistee. »Tante Lotta, Oma Hermine muss das doch alles miterlebt haben. Ich habe Ma schon gefragt, ich finde es seltsam, dass sie euch nichts davon erzählt hat. Habt ihr sie denn nie gefragt, wie es damals war?«
    Â»Oh doch. Aber sie sprach nicht davon. Niemals. Ich glaube, da waren einfach zu viele seelische Wunden, zu viel Schuld und Scham. Die Leute im Dorf haben nach Kriegsende einen Strich gezogen und nur noch nach vorne geschaut.«
    Â»Sie haben also einfach beschlossen, kein Gedächtnis mehr zu haben.«
    Â»Ja, so kann man es sagen.« Tante Lotta schaut mich mit schief gelegtem Kopf und sorgenvoller Miene an. »Aber wegen dieser Geschichte bist du doch nicht gekommen, Jola. Gibt es wieder Probleme mit deiner Mutter?«
    Â»Nein, nein, es hat gar nichts mit Ma zu tun, sondern mit … Kai.«
    Lotta mustert mich eindringlich. »Es ist

Weitere Kostenlose Bücher