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Isegrim

Isegrim

Titel: Isegrim Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Babendererde
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Blicke und Getuschel über mich ergehen. Ich habe nur Olek im Kopf.
    Mein Vater ist unterwegs und Ma löchert mich während des Mittagessens mit Fragen über die Bio-Prüfung. Doch all mein Wissen ist längst gelöscht, als hätte jemand die Delete-Taste gedrückt. Nur mühsam stottere ich ein paar Antworten zusammen.
    Endlich bin ich entlassen und flitze nach oben auf mein Zimmer. Ma weiß immer noch nichts von Lisas Verschwinden. Woher auch – sie war ewig nicht im Dorfladen. Und Pa ist zum Glück so beschäftigt mit seinen Sitzungen, dass die Nachricht anscheinend auch zu ihm noch nicht durchgedrungen ist, sonst hätte er mir längst verboten, in den Wald zu gehen.
    Trotzdem beeile ich mich, um ihm nicht doch noch in die Arme zu laufen.
    Fünfzehn Minuten später radele ich mit vollgepacktem grünem Jägerrucksack den Forstweg entlang. Obwohl noch Übungsbetrieb herrscht – das rhythmische Geballer der Artilleriegeschütze ist heute weithin zu hören und der rot-weiße Ball hängt am Mast –, benutze ich die Ringstraße als Abkürzung. Es ist verrückt, aber die Anwesenheit von Soldaten gibt mir ein Gefühl der Sicherheit.
    Wenig später erreiche ich Oleks Höhle.
    Â»Hallo, jemand zu Hause?«, rufe ich schon im Gang. Als ich Oleks Schlupfwinkel betrete, hockt er ganz oben auf der kleinen Holzleiter, mit einem Bein halb im Fensterloch – bereit zum Sprung.
    Â»Hey, ich bin’s nur.«
    Wortlos kehrt Olek an seinen vom Sonnenlicht beschienenen Steintisch zurück, wo er dabei ist, ein abgezogenes und ausgenommenes Kaninchen zu zerlegen. Ich setze den Rucksack ab und hocke mich ihm gegenüber auf sein Matratzenlager. Wir schweigen und vermeiden, einander anzusehen. Ich beobachte Oleks flinke, blutige Finger, wie sie mit meinem Opinel das rosa Fleisch zerteilen.
    Ich weiß nicht, worauf unser Schweigen hinauslaufen wird, aber ich will nicht wieder mit nach Hause schleppen, was ich für Olek gekauft oder im Haus in aller Eile zusammengesucht habe: Bananen, Schokoriegel, Gummibärchen, Kekse, Knackwurst, Baguette. Kerzen und Streichhölzer, ein graues T-Shirt von mir, das mir zu groß ist, ein Stück Seife, ein rotes Spannbetttuch, Haarwaschmittel und noch ein paar andere nützliche Kleinigkeiten.
    Olek hat seine Arbeit unterbrochen und beobachtet mich mit wachsendem Vergnügen im Blick. »Willst du hier einziehen?«
    Ich halte einen Moment inne. »Würdest du mich denn nehmen?«
    Es ist eine ernste Frage und Olek spürt es. Seine Augen werden schmal. »Jola, ich … ich bin nicht gewöhnt an … Menschen. Und du hast dein Leben. Ein gutes Leben.« Er schluckt.
    Â»Ich habe ein gutes Leben? Woher weißt du das?«
    Â»Ich habe Augen in Kopf.«
    Â»Du spionierst mir nach?«
    Â»Ich passe auf.« Er fährt fort, das Fleisch in kleine Stücke zu schneiden.
    Wer bist du, Olek? Einer, der einsam in einer Höhle haust, Leute beklaut und in der Nacht das Leben anderer Menschen ausspioniert? Ich habe einen wahnwitzigen Verdacht.
    Â»Sag mal, sitzt du hin und wieder im Kirschbaum vor meinem Zimmer?«
    In seinem Gesicht zuckt kein Muskel, aber seine Hände verraten ihn.
    Â»Olek?«
    Â»Manchmal.«
    Â»Oh Gott«, entfährt es mir. Er ist mir nicht nur im Wald auf Schritt und Tritt gefolgt, er hat auf dem Baum gesessen und in mein Zimmer gestarrt, als Kai und ich miteinander schlafen wollten. Und nicht nur das. Er war in meinem Zimmer und hat meine Müsliriegel geklaut.
    Ich hole tief Luft und wir sehen einander in die Augen. Ich sollte wütend sein und verletzt, doch in Oleks Blick flackert eine so verzweifelte Einsamkeit, dass es mir den Magen schmerzhaft zusammenzieht.
    Â»Ich bin dir nicht böse«, sage ich. »Ich will nur wissen, warum. Warum haust du wie ein Eremit in einer Höhle auf einem Truppenübungsplatz?«
    Â»Eremit?«
    Â»Einsiedler. Vor wem versteckst du dich, Olek? Wo sind deine Eltern? Wahrscheinlich fragen sie sich verzweifelt, wo du bist.«
    Olek schließt die Augen und schüttelt den Kopf. »Meine Eltern sind tot.« Als er seine Augen wieder öffnet, sind sie um einiges dunkler als noch vor Sekunden. »Meine Mutter, sie … ich war ihr egal. Sie hat getrunken, hat den ganzen Tag Schnaps getrunken und herumgebrüllt.«
    Â»Und dein Vater?«
    Â»Kein Vater, nur fremde Männer und viel Prügel.« Olek

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