Isenhart
gerichtet hatte.
Von der Vielschichtigkeit der Frage war er durchaus beeindruckt. Im Gegenzug war Henning von der Ratio überrascht, mit der Isenhart seinen Worten begegnete. Davon und von der Tatsache, dass zwischen der Frage und der Antwort kaum ein Atemzug verging.
»Nein«, erwiderte Isenhart, »bin ich nicht. Mein Auge ist nur ein Filter. Vielleicht sind die Blitze Wellen und der Himmel ist ein Meer aus Luft – wer weiß? Das entzieht sich meiner Kenntnis.« Er sah Henning in die Augen: »Aber nur, weil wir beide in den Wellen Blitze sehen, können wir uns austauschen. Ansonsten wären wir allesamt stumme Inseln. Deshalb nehme ich gerne in Kauf, dass mein Augenlicht mich vielleicht täuscht.«
Die Regentropfen, die der Wind hereintrieb, verbargen es zwar, aber Henning schossen die Tränen in die Augen. Isenharts Worte berührten ihn nicht nur, sie erschütterten ihn in seinen Grundfesten. Die Hoffnung, ja, die hatte er gehabt. Wieder und wieder, wochen-, monate-, jahrelang, doch eine Kette nicht enden wollenderEnttäuschungen lag hinter ihm. Ein Sammelsurium verwunderter Blicke und Gesichter mit vor Staunen geöffneten Mündern. Menschen, die nicht verstanden, was ihn bewegte. Menschen, die nicht wussten – und sich vor allem nicht dafür interessierten –, was sich außerhalb ihrer Erfahrungswelt abspielte.
Eine geistlose Masse, die in den Tag hinein lebte. Unempfänglich für neue Gedanken, ja geradezu ängstlich allen Neuerungen gegenüber. Sicher, sein Vater Günther stand diesbezüglich über ihnen, aber auch er blieb Antworten schuldig, auch er hatte erst wenige eigene Schritte in diesem Kosmos zurückgelegt.
Mit den Jahren wurde Henning eine Insel. Selbstständigkeit, begriff er, erforderte einen hohen Preis: Einsamkeit. Es gab niemanden, mit dem er sich austauschen konnte. Niemanden, dem er seine Gedanken präsentieren konnte. Niemanden, der sie wertzuschätzen wusste. Geschweige denn, durch eine Replik in unerhörte Höhen zu schwingen vermochte.
Und genau das tat Isenhart in diesem Unwetter, das sie umtoste. Mit einer einzigen Antwort gab er ihm zu verstehen, dass sein Wissen nicht umsonst war, dass es neben der Insel, die er bildete, noch andere gab.
Die Erleichterung darüber, der Trost, mit dem er in diesem Leben nicht mehr gerechnet hatte, erschütterte Henning. Die Tränen in seinen Augen rührten von der Dankbarkeit her, die er gegenüber dem Schicksal empfand. »Wo, Bruder, hat du dich all die Jahre versteckt?«, fragte er. Und suchte dabei den Blick des Schmieds, dem es ähnlich zu ergehen schien.
»Ich habe einfach nur gewartet«, erwiderte dieser. Und schlug in die Hand ein, die Henning von der Braake ihm darbot.
Der Morgen war durchsetzt von frischer Luft, die keine Mücken oder Fliegen mehr beherbergte, es war, als hätte das Gewitter jeden Winkel dieser Welt gereinigt.
Hinter der Herberge lud ein frisch aufgeworfener Graben zur Entleerung von Darm und Blase ein. In der Gemeinschaft der Kaufleute, die von hier weiter ins Deutsche Reich oder in französisches Gebiet reisten, erleichterten sich Henning und Isenhart, bevor sie sich von der Bande der Wegelagerer verabschiedeten, die an diesemMorgen, durchnässt und schlotternd, ein trauriges Bild abgaben. In zwei Tagen, das war die Vereinbarung, wollte man sich wieder hier treffen, um die Edelsteine sicher nach Spira zu transportieren.
Ohne Führer brachen sie von Hambach auf aus und hielten sich südsüdwestlich, sodass sich hinter den Nadelwäldern zu ihrer Rechten, die aus der Ferne einen bläulichen Schimmer annahmen, mehr und mehr die Pfälzer Berge erhoben, an ihrer höchsten Ausdehnung bald bis zu 2000 Fuß hoch.
Am frühen Nachmittag erreichten sie einen Bach, dem sie folgten, weil er seinen Ursprung in jener Himmelsrichtung zu haben schien, die sie ohnehin anstrebten. So wuchsen die Berge langsam vor ihnen in den Himmel. Annweiler konnte nicht mehr fern sein, denn schon bald erhaschten sie durch die Zweige der Bäume, die sich beiderseits des Eußerbachs erstreckten, einen Blick auf Burg Trifels – das ehemalige Gefängnis von Richard Löwenherz –, die sich auf schier unerreichbar wirkenden Felsen mitten in den Bergen erhob.
Das Kloster Eußerthal, erbaut aus großen Sandsteinquadern, die man ganz in der Nähe dem Erdreich abgetrotzt hatte, war lediglich von einem Dutzend Häusern aus Lehm, Holz und Stein umgeben. Das Fundament bis zu drei Fuß tief in den Boden getrieben, weshalb die wenigen Fenster sich in der
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