Isenhart
das taten sie.
Auf dem Weg nach Hambach unterhielt Henning von der Braake sie mit Geschichten aus dem westlichen Frankenreich, in dem man in einigen Gegenden tatsächlich Tieren den Prozess gemacht hatte.
Einen hatten sein Vater und er selbst erlebt. Es ging um ein Hausschwein, das einen dreijährigen Jungen umgerannt hatte. Die Wucht, mit der der Kopf des Kindes gegen den Türrahmen schlug, führte eine Verletzung herbei, der der Junge wenige Stunden später erlag. Das Schwein wurde vor Gericht gestellt und auch befragt. Seine Weigerung, sich zum Tathergang wie auch über seine Motive zu äußern, erzählte Henning, bekräftigte die Vermutung des Richters, dem Tier wohne das Böse inne. Also war es am Galgen gehenkt worden.
Isenhart und Henning kamen in Hambach, einer überschaubaren, vorwiegend von Bauern bewohnten Siedlung, in einer Herberge unter. Diese waren im Reich noch nicht sehr verbreitet, da aber einige Pässe durch die Pfälzer Berge hier zusammenführten, lohnte sich die Bewirtung von Kaufleuten, die sich mehrmals täglich den Türring in die Hand gaben. Den beiden wurde ein Strohlager zugewiesen, man tränkte und fütterte ihre Pferde und gab ihnen anschließend zur Vesper Brot, Butter, Ziegenkäse, ein paar Beeren und Bier.
Isenhart war todmüde, ein Sommergewitter kündigte sich amAbendhimmel an, und er war froh, sich aufs Strohlager fallen lassen und seinen Träumen überlassen zu können.
Er erwachte mitten in der Nacht, ein Unwetter hatte sie heimgesucht, und als ein Blitz sein hellblaues Licht gleißend durch die Türöffnung warf, stellte er fest, dass das Lager neben ihm leer war.
Isenhart rappelte sich auf, gähnte herzhaft und fuhr sich mit der Hand über die Augen. Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen, um nicht auf einen der Kaufmänner zu treten, die hier ebenfalls auf Strohlagern nächtigten, bis er den Ausgang erreichte. Der Hof bestand aus aufgewühltem Matsch, die trockene Erde vermochte die Wasserfluten nicht aufzunehmen, die auf sie hinabprasselten. Am Stall machte Isenhart eine Gestalt aus und lief über den Hof, durch den Platzregen, der den letzten Rest Schläfrigkeit aus ihm heraustrommelte.
Die Gerüche traten viel klarer als sonst hervor, das war die Eigenart des Regens. Grasgeruch lag ihm tief in der Nase, das Aroma der Erde war zum Schmecken nah, als er Henning von der Braake erreichte, der ihren Pferden in kreisenden, beruhigenden Gesten über die Stirn und den Kopf fuhr.
Henning schenkte ihm nur ein Lächeln, kein Wort zerstörte diese Zweisamkeit, die sich rein zufällig ergeben hatte und von der Isenhart doch den Eindruck gewann, dass es genau so und nicht anders bestimmt war. Er ging ebenfalls dazu über, die Pferde zu streicheln und die Blicke auf jene grellen Linien zu richten, die die Blitze in unvorhersehbaren Bahnen in den schwarzen Himmel rissen.
»Ist das eine Mahnung Gottes?«, fragte Henning kaum hörbar.
»Ich weiß nicht«, bekannte Isenhart.
»Ich auch nicht.«
Henning sollte sich später gerne an diesen Augenblick erinnern. Es war – Liliths Leichenschau ausgenommen – das erste bedeutsame Band zwischen ihnen, sie strandeten beide bei dem gedanklichen Versuch, die Ursache eines Gewitters einzugrenzen. Ihren Geist fanden sie zwar hilflos vor, aber in der Dunkelheit der Unwissenheit, die sie umgab, spürten sie doch die tröstliche Hand des jeweils anderen.
Sie waren nicht alleine. Und das war für beide neu.
Sie standen eine ganze Weile nebeneinander, versunken in der Betrachtung dieses Naturschauspiels, bis Henning Isenhart von der Seite musterte.
»Ist das wahr, was wir sehen?«, fragte er vorsichtig.
Isenhart wurde aus seiner Betrachtung gerissen, dachte kurz über die Frage nach und nickte dann. »Ja«, antwortete er, »ich sehe es ja.«
»Du siehst, also bist du«, folgerte Henning.
Isenhart musste lächeln, er blickte zu Henning, der schmunzelte. »So kann man sagen, ja. Deshalb kann ich meine Existenz bestätigen – weil ich sehe.«
»Video ergo sum«, übersetzte Henning.
Isenhart lachte kurz auf, weil ihm all das langsam unwirklich erschien.
»Und bist du dir sicher, dass das, was du siehst, auch das ist, was du siehst?«
Walther von Ascisberg hatte ihn mit einer Menge an Fragen traktiert, die erst auf den zweiten oder auch dritten Blick ihre wahre Absicht offenbarten. Man konnte sagen, dass Isenhart solcherlei Fragestellungen gewohnt war. Dessen eingedenk war diese trotzdem die zweischneidigste, die man je an ihn
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