Isenhart
Überzahl auf Hüfthöhe eines normal gewachsenen Mannes befanden.
Die Glocke schlug zur Non, die Hälfte des Nachmittags war verstrichen. Die Mönche, die von ihrer Arbeit abließen, um sich in der Pfeilerbasilika zu versammeln und einen Hymnus aus drei Psalmen als Lobpreisung an den Herrn anzustimmen, erinnerten Isenhart an Mulenbrunnen, denn auch dieses Kloster wurde von Zisterziensern bewohnt.
Die Mehrzahl der Geistlichen fuhr allerdings mit ihrer Arbeit fort – es waren Laienbrüder, Konversen genannt, die an ihrem weißen Habit zu erkennen waren, einer bis zum Boden reichenden Tunika. Sie nahmen den Chormönchen, die zum Kloster zogen, die handwerklichen Verrichtungen ab, um ihren Brüdern die Zeit zu erwirtschaften, die sie für das Studium der Heiligen Schrift oder das Kopieren von Büchern benötigten.
Der Prior, Stellvertreter des Abtes, ein außergewöhnlich junger Mann für diese Position, empfing sie mit einem Lächeln. Was zunächst eine Atmosphäre schuf, in der Henning und Isenhart sich aufgehoben und willkommen fühlten, geriet auf Dauer zu einer sanften Marter. Denn ganz gleich, was geschah, egal, auf was sie zu sprechen kamen – das Lächeln blieb.
Henning von der Braake hatte angeregt, beim Kloster haltzumachen und sich nach von Annweiler zu erkundigen. Der Mann, den sie suchten, besaß zwangsläufig Eltern, und wenn es nicht einen höchst gewichtigen Grund für einen Umzug gab, verstarb man anständigerweise an seinem Geburtsort. Die Wahrscheinlichkeit, auf die Gräber der Eltern zu stoßen – und dabei etwas über sie und ihren wahnsinnigen Sohn zu erfahren –, war also hoch.
Das galt vor allem in Anbetracht des Umstands, dass es in den letzten Jahrzehnten in Mode gekommen war, verstorbene Familienmitglieder nicht mehr im Wohnzimmer oder direkt vor dem Haus zu verscharren, sondern sie im Umkreis eines Klosters oder einer Kirche unter die Erde zu bringen sowie die Stätten ihrer letzten Ruhe mit Holzkreuzen zu kennzeichnen.
»Ich bin Christian der Frohe«, sagte der Prior. Weder bei Henning noch bei Isenhart mochte sich Überraschung ob dieses Beinamens einstellen. Christian der Frohe, so erfuhren sie ungefragt, hieß eigentlich Christian von Kosach und stammte aus einem Adelsgeschlecht, das sich einiger Ländereien in den Bergen erfreute und im regionalen Weinhandel eine gewichtige Rolle spielte.
Christian hatte sich eines Morgens entschlossen, den irdischen Reichtum, der ihm als einziger Sohn rechtmäßig zustand, zu verschmähen und sich stattdessen den Zisterziensern anzuschließen. Nichts von dem Wohlstand seines Vaters sei auf seiner eigenen Hände Arbeit zurückzuführen, folglich habe er sich dieses Reichtums als unwürdig empfunden und ihm entsagt. Bei diesen Worten nahm sein Lächeln ein erträgliches Ausmaß an. Aber nicht für lange, denn seine makellosen Zahnreihen blitzten wieder auf, als er mit dem rechten Arm auf ein Grab deutete.
»Da liegt er, mein Vater. Die Taschen seines letzten Hemdes waren auch leer.«
»Kennt Ihr Aberak von Annweiler?«, kam Henning unumwunden auf den Punkt, während sie dem Prior durch die Reihen der Gräber folgten. »Ist er ein Einarmiger?«
»Nun«, sagte Christian der Frohe gedehnt, »Eure Frage beinhaltet deren zwei, eine kann ich bejahen, die andere muss ich verneinen.«
Möglicherweise gefiel Christian der Frohe sich in sibyllinischen Antworten, vielleicht gründete dieser Eindruck auch auf seinem stetigen Lächeln.
Das Leben Christians des Frohen war eigentlich ein Trauerspiel. Nicht hehre Werte hatten ihn veranlasst, dem Erbe zu entsagen, sondern das Bewusstsein seiner Unfähigkeit bei Geschäften jeglicher Art und daraus resultierend seine Angst vor Verantwortung.
Das Kloster im Eußerthal war für ihn diesbezüglich eher Refugium als Erfüllung. Der Versuch, in die Fußstapfen des Vaters zu treten, hätte eine endlose Folge von Entwürdigungen nach sich gezogen, dessen war er sich gewiss. Also hatte er sich für ein Leben in Trostlosigkeit entschieden. In diesem Punkt war er von der Gemeinschaft der Zisterzienser auch noch nie enttäuscht worden.
Selbstverständlich boten vor diesem Hintergrund Besuche wie der heutige eine willkommene Abwechslung, die er so weit zu dehnen versuchte wie irgend möglich.
»Ich kenne den Mann nicht, nach dem Ihr fragt«, erwiderte er.
Henning und Isenhart wechselten einen enttäuschten Blick, der dem Prior nicht verborgen blieb.
»Trotzdem weiß ich etwas über ihn zu berichten«, hielt er
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