Isenhart
woher er diese Gewissheit nahm, aber er war sich sicher, dass Henning von der Braake ebenso fühlte.
»Wenn es kein Wiedergänger ist«, sagte Henning in die Stille hinein, »dann ist er ein Mensch. Ein Mensch, der nicht Aberak von Annweiler ist.«
»Aber dessen Namen benutzt«, folgte Isenhart dem Gedanken.
Henning nickte. Er warf einen Blick hinüber zu der schmalen Gestalt auf dem Stroh, die ihr Gesicht dem Licht des Mondes zugewandt hatte, der sich in seinen Augen spiegelte.
Es war ein Glanz, der Isenhart eine natürliche Schönheit verlieh, der Glanz des Aufgeweckten, des Tatendurstigen – des wachen Geistes. Und dieser Glanz zog Henning, der frei war von jeder Versuchung für das gleiche Geschlecht, an wie eine Motte das Licht.
»Angenommen, Draugr existieren«, sagte Isenhart leise, »meinst du, sie hinterlassen dann Spuren im Schnee?«
»Ich weiß es nicht«, bekannte Henning von der Braake nach kurzem Nachdenken, »wieso?«
»Wem immer wir auf den Fersen sind, er hat schon einmal getötet«, antwortete Isenhart und richtete den Blick auf den Sohn des Medicus. Er erhob sich, ein paar Strohhalme lösten sich von seinen Kleidern und schwebten hinab. Er nahm im Schneidersitz vor Hennings Lager Platz.
»Anna war Konrads Schwester. Und ich habe sie geliebt.«
Mit diesen Worten leitete Isenhart seine Erzählung ein, beschränkte sich auf die wichtigsten Einzelheiten, gab dabei eine grobe Übersicht über die Interessen des Hauses Laurin und des Abtes von Mulenbrunnen und schloss mit dem Verdacht, mit Alexander von Westheim einen Unschuldigen getötet zu haben. Ein Verdacht, der ihm sichtlich zu schaffen machte.
Mit jedem Wort, das Isenhart an ihn richtete, zog er Henning immer weiter in seinen Bann. Auch, weil der junge Schmied und Wachmann über die Gabe verfügte, mit detaillierter Präzision zu schildern, aber vor allem, weil in jedem Wort, das er über Anna von Laurin verlor, eine bedingungslose Hinwendung mitschwang. Henning sah nun auch die Spuren im Schnee. Er spürte Isenharts Besorgnis, die sich zur Angst steigerte. Und dann erfasste sie beide der Schock beim Anblick der Ermordeten. Isenhart vergegenwärtigte sich dieses Gefühl aus der gelebten Vergangenheit, Henning hingegen erzeugte es mühelos aus Isenharts Schilderung.
Und sie erschütterte ihn so sehr, traf ihn so unvorbereitet, dass es ihn alle Mühe und ein hohes Maß an Disziplin kostete, sich die Tränen zu verkneifen.
»In dem Augenblick«, schloss Isenhart, »wollte ich sterben.«
Die Welle brach sich trotz äußerster Beherrschung an Hennings Augen und rann ihm über die Wange.
Da die Zisterzienser sich nachts um eins zum Gebet versammelten und ihr Tagwerk um vier Uhr am Morgen begannen, beide Male von Glockenläuten begleitet, verbrachten Henning und Isenhart eine unruhige Nacht.
Sie sattelten gerade die Pferde, als sich ihnen ein Geräusch näherte, ein Klapp-Klapp, dumpf und trocken. Beide wandten sich gleichzeitig um.
Eine mariengleiche Gestalt bog um die Ecke, in ihrer rechten Hand lag die hölzerne Schelle, die das stete Geräusch verursachte. Sie trug den Habit der Mönche und war barfuß. Die Wangenknochen traten sanft unter den ebenmäßigen Augen hervor, der Mund geschwungen, in den Augen lag wacher Ernst.
Als die junge Frau sie beide erblickte, verharrte sie auf der Stelle. »Entschuldigt die Störung«, brachte sie hervor, ließ die Hölzer in ihrer Hand klappern und wandte sich ab.
Ihr Gesicht war überzogen von Lepraflecken.
Sie war aus dem Gebäude gekommen, das sich unweit des Stalls neben dem Kloster befand, aus dem Hospitalium, das für gewöhnlich Reisende und vor allem Pilger beherbergte. Ihnen Unterkunft und ein Lager zu bieten und vor allem Leib und Magen zu versorgen, gehörte zur obersten Christenpflicht der Mönche. Mit der Zeit suchten auch die Kranken hier Zuflucht, sodass die Hospitalia zu einem Anlaufpunkt für die Aussätzigen wurden.
»Wartet!«, rief Henning von der Braake ihr zu. Die junge Frau verharrte erneut und sah sich über die Schulter. Henning ging mit einem Lächeln auf sie zu. Die Schelle, wusste Isenhart, war den Aussätzigen vorgeschrieben, um die Gesunden vor ihnen zu warnen, vor allem die Kinder. Unablässig mussten die Leprakranken sie klappern lassen. Das war der entwürdigende Tribut dafür, dass man sie aufnahm und pflegte.
Henning hatte die junge Frau erreicht.
»Tretet nicht zu nahe, Herr«, bat sie.
Aber Henning tat das Gegenteil. Er schloss sie fest in seine Arme,
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