Isenhart
»Sagen wir so, Sophia, dein Bruder hat davon gekostet, und Isenhart hat die Frucht herzhaft verschlungen.«
Ein nachsichtiges Lächeln begleitete seine letzten Worte.
»Der Weg zur Erkenntnis ist wie ein Boot, das der Strömung des Flusses folgt«, sagte er, »irgendwann führt es dich zum Meer. Aber du kannst den Weg niemals wieder zurückgehen. Du kannst nicht so tun, als hättest du diese Reise niemals unternommen, nichts von dem, was du auf der Reise erfahren hast, kannst du je wieder von dir abstreifen. Es wird unwiderruflich ein Teil von dir, und du kannst es nicht mehr verleugnen. Nach außen vielleicht, aber nicht vor dir selbst. Verstehst du?«
Sophia konnte den Gedanken des Mannes nur schwer folgen. Was sie aber zweifelsfrei spürte, war Walthers Wunsch, sie vor unliebsamen Erkenntnissen zu schützen. »Aber Ihr habt diesen Weg schon hinter Euch.«
»Oh, das Meer dürfte noch weit sein.«
»Und bereut Ihr Eure Entscheidung?«
»Keinen Fuß.«
Also willigte Sophia ein. Zu groß war ihre Neugier gewesen, als dass die Unumkehrbarkeit der Reise, die nun anstand, sie ernstlich hatte schrecken können.
»Die Zeit frisst uns gemächlich. Es ist die Langsamkeit, mit der sie ihr Werk verrichtet, die uns den Schrecken vor ihr nimmt. Dabei müssten wir sie fürchten wie den Teufel selbst«, rezitierte Sophia, »das ist es, was Walther gesagt hat.«
Sie und Isenhart lagen noch immer Hand in Hand auf dem Stroh in der Dachkammer. Mittlerweile hatten sie vor der Kälte der Nacht Zuflucht unter vier kleinen Decken aus grobem Leinen gesucht, die bei sinnvoller Anordnung genug Wärme boten.
Ihre Augen fanden sich. In Heiligster schliefen sie oft gemeinsam an einer Stelle, wobei die Stelle sich zur Winterszeit so nahe wie möglich am Ofen befand. Über-, unter- und nebeneinander bildeten sie ein eindrucksvolles Knäuel an Gliedmaßen und Rümpfen, aus dem sich Seufzer und tiefes Schnarchen erhoben. Für gewöhnlich.
Damit würde es nun ein Ende haben. Obwohl es den guten Sitten entsprach, dass in dem Raum, in dem sich alle zur Nachtruhe betteten, ohne Scham kopuliert wurde, sich vor den Augen des Nachwuchses Zeugungsakte, Geburten und Ableben vollzogen, war in Heiligster ohne Zweifel eine neue Ära angebrochen.
Marie und Konrad hatten ihr Faible für das Angeln entdeckt, Ursel und Henrick würden heiraten, selbst Gweg, der im Begriff war, seine eigene Familie zu gründen, konnte nun nicht mehr so viel Zeit wie sonst für sie erübrigen.
Die folgenden gemeinsamen Nächte in Heiligster würden sie nur noch mit Vater Hieronymus teilen.
»Wünschst du dir, die Zeit anhalten zu können?«, wisperte Sophia in die Dunkelheit, die sie umfing und die sie gleichermaßen willkommen hießen.
»Ich wünschte«, erwiderte Isenhart, »ich könnte sie um zwei Jahrhunderte vordrehen.«
Sophia fühlte sich von diesem Wunsch, mit dem Isenhart sich öffnete und sein Innerstes offenbarte, gleichsam erhoben wie abgestoßen. In zwei Jahrhunderten wäre sie lediglich noch Zähne und Knochen. Wenn überhaupt.
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17.
m 21. September 1195 traten Henrick und Ursel in den heiligen Stand der Ehe.
Es ging ein starker Westwind, der die Oberfläche des Rheins kräuseln ließ. Die ersten Kolkraben waren geschlüpft, ihr helles, kehliges Geschrei, das Gweg und Unnaba im Wechsel zur Nahrungssuche antrieb – und an den Rand der Erschöpfung brachte –, drang bis ans Ufer.
Henrick hatte das bessere Paar seiner zwei Beinlinge angezogen, Ursel steckte in einem Stück aus gebleichtem Leinen, das Marie für sie angefertigt hatte.
Selbst Walther von Ascisberg hatte die Anreise auf sich genommen. Offiziell natürlich wegen der Trauung, die Vater Hieronymus gerade vornahm, doch insgeheim bargen Isenharts Berichte über die Flügel, die Henning und er angefertigt hatten, den weitaus größeren Anreiz, sich nach Heiligster zu begeben.
»Reicht nun einander die Hand«, sagte Hieronymus mit feierlichem Unterton. Ursel und Henrick blickten sich in die Augen und führten ihre Hände zusammen. Isenhart erhaschte einen Blick auf Sophia, die am Rand stand. In ihren Augen lag ein feuchter Schimmer.
»Mit Gottes Segen traue ich euch, Henrick, Sohn des Chlodio, und Ursel vom kleinen Bachlauf zu Mann und Frau.«
Henrick und Ursel wandten sich einander zu, er trat ihr auf den rechten Fuß, wie der Brauch es befahl, dann lief Ursel los. Flink wie ein Wiesel sprang sie über die Steine und den Trampelpfad entlang, der vom Rheinufer nach Heiligster
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