Isenhart
hellen Stern, der als Erster in den frühen Abendstunden aufstieg.
»Das ist die Venus«, sagte Isenhart ruhig, »der Liebreiz, das Licht Jesu Christi, sein Vorbote.«
»Wie mag es dort wohl aussehen?«, fragte sie.
Isenhart stutzte bei dieser Frage, denn er hatte sie sich nie gestellt und schalt sich dafür, denn er hätte sie sich längst stellen müssen. Dabei wusste er, dass ihm eine Lebensspanne niemals reichen würde; drei und mehr Leben bräuchte er, um allem auf den Grund zu gehen, und selbst das wäre nicht genug. Selbst dann müsste er vor Gottes Vielfalt in die Knie gehen, um letztendlich zu scheitern.
Isenhart nickte leicht, als befände er sich in Zwiesprache mit dem Schöpfer.
Sophia betrachtete ihn von der Seite. »Was geht dir durch den Kopf?«, fragte sie.
»Dass die Zeit, die mir bleibt, nicht reicht, um alles zu umfassen. Ich werde nur Ansätze begreifen und … unwissend sterben.«
Die letzten Worte versah er zwar mit einem Lächeln, doch Sophia konnte er nicht täuschen. Sie hörte nicht nur den Schmerz, der in seine Worte verwoben war, sie konnte ihn regelrecht spüren. Die Bedrückung. Und die unbarmherzig weichende Zeit.
Als sie deshalb nach seiner Hand griff, seine Finger ihrem sanften Druck aussetzte, war dies eine Geste des Trostes, und als er seine Augen auf ihre richtete, empfand sie Erleichterung wegen der Erkenntnis, dass er alles so auffasste, wie sie es gemeint hatte.
»Fühlst du nicht auch so?«
Diese Frage war frei von jeder Berechnung. Isenhart wollte es einfach nur wissen. Sie in derselben Gefühlslage zu wissen, hätte ihm einen nicht unerheblichen Trost bedeutet, wie Sophia begriff, andererseits war ihm zuallererst an der Wahrheit gelegen.
»Nein«, antwortete sie daher, »die Begrenztheit der Zeit, meiner Zeit, ist der Ursprung ihrer Wertigkeit. Besäße ich sie im Überfluss, wäre sie einerlei. Und ohnehin ist dieses nur ein Vorleben.«
»Ist es das?«
»Ist es das nicht?«
Ihre Hände hatten sich noch nicht voneinander gelöst, ihre Blicke fanden sich. Unsicher und verletzlich. Es war ein fragiler Augenblick, wie am Rheinufer, in dem alles auf dem Spiel zu stehen schien und gleichermaßen auch alles gewonnen werden konnte.
Ein ferner Glanz fiel auf Sophias grüne Augen und ließ sie ein wenig schimmern. Die Sorgenfalte, die ansonsten stets ihre Stirn zu zieren schien, trat ausnahmsweise nicht hervor. Ihr Geist gab sich seinem hin, sie leistete keine Gegenwehr, als er mit seinen Gedanken in sie drang.
»Vielleicht ist dieses gar kein Vorleben«, wisperte er.
Sophias Geist verscheuchte den seinen nicht, sie ließ ihn gewähren. Und das, obgleich er einen seiner traurigsten Gedanken mit sich brachte. Wenn dieses kein Vorleben war, trug dieser Gedanke den Ausschluss des Ewigen Lebens in sich. Trotzdem wich sie nicht zurück.
»Dann musst du die Zeit nutzen. Den Tag. Und die Nacht.«
»Carpe noctem«, erwiderte Isenhart leise.
Er wollte die Hand lösen, doch ihre Finger umschlossen die seinen.
»Bleib«, sagte sie leise.
Sie meinte zu spüren, wie sich sein Geist aus ihrem zurückzog, wie erneut eine Distanz zwischen sie zu treten drohte, und sie war nicht gewillt, das ein zweites Mal zuzulassen.
»Komm.«
Sie zog ihn sanft mit sich, legte sich aufs Stroh und nötigte ihn, da sie immer noch seine Finger umklammert hielt, neben sich.
Sein Geist hatte sich aus ihrem nicht verflüchtigt, das spürte Sophia. Er war noch bei ihr, in ihr.
»Vielleicht gibt es nach dem Tod keine Zeit mehr«, nahm sie den Faden wieder auf, »denn was ist Ewigkeit denn anderes als die Abwesenheit von Zeit?«
Isenhart fühlte, wie ihre Gedanken die seinen umschlangen und wie die seinen sich begehrlich um die ihren rankten. Er fühlte sich aufgehoben.
»Und was ist, wenn die Ewigkeit nichts weiter ist als ein tröstlicher Gedanke für die Sterblichen?«
Die Frage zischte mit dem nachhaltigen Schmerz eines Peitschenschlages auf sie hinab. Sie stellte all das, woran sie glaubte, mit einigen wenigen Silben komplett infrage. Doch sie bemühte sich, ihr Erschrecken im Zaum zu halten, um ihn nicht zu verjagen.
»Dann gilt nur die Gegenwart«, antwortete Sophia, »aber warum fragst du?«
»Weil ich es nicht weiß.«
»Aber Gott weiß es.«
Isenhart holte Luft, er wollte etwas erwidern, sah ihr in die Augen und unterließ es dann.
»Was wolltest du sagen?«
»Nichts.«
Er zog sich zurück, sie konnte es spüren. Behutsamer, langsamer als am Rheinufer, aber nichtsdestotrotz
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