Isenhart
Ihr kennt Aberak von Annweiler nicht«, nahm Isenhart einen anderen Faden auf, und als Walther von Ascisberg diese Feststellung mit einem Nicken bestätigte, fuhr er fort: »Und Ihr habt auch gesagt, Ihr kennt keinen rothaarigen, einarmigen Mann.«
Walther war noch nie von einem seiner Schüler der Lüge überführt worden. Jetzt stellte er fest, dass es keine Erfahrung war, nach deren baldiger Wiederholung er sich sehnte. Er nickte. »Ich wollte mit ihm reden, nach dem Mord an Lilith, deshalb habe ich seine Identität dir und Henning gegenüber verschwiegen.«
»Ihr wart in Mannenheim? Und Tarup?«
»Ganz recht. Er sagte mir, er habe mit den Morden an den Jungfrauen nichts zu tun.«
»Und Ihr habt ihm geglaubt?«, fragte Isenhart, um Fassung bemüht.
»Ja. Ansonsten hätte ich ihn getötet, Isenhart.«
»Aber Ihr wisst, was während der Hungersnot auf seiner Burg geschehen ist, nicht wahr? Ihr wisst, dass sie dort Menschen gegessen haben. Dass Michael von Bremen die Herzen von zwei Männern …«
»Im Winter 1191 hat das Verspeisen von Menschen nicht nur in Mannenheim und Tarup Einzug gehalten, das solltest du bei der Einschätzung dieses Mannes nicht außer Acht lassen.«
»Aber ebenso wenig die Vorkommnisse, von denen Ihr mir berichtet habt. Michael von Bremen hat bei Doryläum überlebt, weil man ihm das Herz eines Mannes zu essen gegeben hat – zumindest hätte das seine Überzeugung sein können.«
Walther deutete ein Nicken an. »Genau. Starke Männer, starkes Herz. Das ist der Zusammenhang. Wieso sollte er sich von starken Männern auf Jungfrauen verlegen? Das ergibt keinen Sinn. Und noch etwas: 1191 haben sie in Tarup Tote verspeist. Nicht Lebendige getötet, um sie zu essen. Das ist ein Unterschied.«
In der Tat war es einer, den Isenhart übersehen hatte. »Warum habt Ihr mir nichts von Eurem Besuch bei von Bremen erzählt?«
Der leise Vorwurf, den die Frage in ihrem Ton barg, blieb Walther nicht verborgen, und er konnte es Isenhart nicht verdenken. »Weil ich ratlos bin«, gab er zu, »die Morde an Anna und der Wirtstochter Lilith entsprechen denen, die Sydal von Friedberg begangen hat. Und es sind auch seine Schriften, auf die du in Tarup gestoßen bist. Aber Sydal ist lange tot. Bleibt die Möglichkeit eines Draugr. Sollen wir das glauben?«
»Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll«, bekannte Isenhart.
Walther fand sich von der Offenheit der Worte berührt. Isenhart war noch nie daran gelegen, schlauer dazustehen, als er tatsächlich war. »Möglicherweise ist Michael von Bremen es doch gewesen«, machte von Ascisberg die Konfusion komplett, »vielleicht hat er mich belogen, glaubte, seine Täuschung sei gelungen, bis ihr bei ihm aufgetaucht seid. Und hat dem schmerzvollen, öffentlichen Tod einen selbstbestimmten Übergang ins Jenseits vorgezogen. Wer weiß? Er kann es uns jedenfalls nicht mehr sagen.«
Walther trat wieder an ihn heran, ihm schien der rechte Moment gekommen. »Du bist Sydal von Friedberg schon einmal begegnet. Er hat dir nämlich das Leben gerettet.«
Isenhart sah ihn erstaunt an, durchsuchte sein Gedächtnis nach einer Situation, in der ein Fremder ihn gerettet hatte, und wurde nicht fündig. Also schüttelte er den Kopf: »Das müsste ich wissen.«
»Das kannst du nicht mehr wissen«, meinte Walther nachsichtig, »du wurdest tot geboren, deine Nabelschnur hatte dich bei der Geburt erstickt. Du bist das, was die Leute einen Untoten nennen, Isenhart, du warst schon im Jenseits, du hast die andere Seite gesehen. Sydal von Friedberg hat dich aus dem Totenreich zurückgeholt. Ins Leben. Zu uns.«
»Ich war tot, und er hat mich zum Leben erweckt?«, fragte Isenhart ungläubig.
Walther nickte. Er verschwieg, dass dieses Kunststück nicht nur Sydal gelungen war, sondern auch ihm, denn er hätte Isenhart unweigerlich Zeugnis darüber ablegen müssen, wie er zweimal gestorben war.
»Aber wie konnte das gelingen?«
»Er hat dir seinen Atem eingehaucht. Einen Teil seiner Seele, das hat er gesagt.«
Jede von Walthers Feststellungen glich einem Stein, den man ins Wasser warf. In konzentrischen Kreisen jagten ganze Ketten von Fragen, Assoziationen und neuen Überlegungen durch Isenharts Kopf. Und er war nicht in der Lage, sie zu bändigen.
Die Antwort auf die nächste Frage veränderte sein Leben – das, das bereits hinter ihm lag, wie auch sein zukünftiges. »Warum hat Sydal von Friedberg mich gerettet?«
Walther atmete einmal tief durch: »Weil er dein Vater war,
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