Isenhart
Isenhart.«
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23.
ennings Heilungsprozess und die damit einhergehende Gewissheit, ihn nach seiner Rückkehr lebend anzutreffen, ermunterten Isenhart zu seinem Vorhaben.
Henning von der Braake mochte ein Krüppel bleiben, aber Isenharts Anwesenheit hätte es nicht zum Besseren wenden können, außerdem würde sein Geist immer auf zwei flinken Beinen laufen. Seine Genesung war bei Walther und seinem Vater in denkbar besten Händen.
Am Morgen nach der Unterredung mit Walther von Ascisberg kniete er neben dem schlafenden Freund, dessen Gesicht von Schweiß bedeckt war. Mit einem Tuch wischte Isenhart ihm den Film von der Stirn, ohne dass Henning erwachte. Er weckte den Freund nicht, sondern gab ihm einen Kuss auf die Stirn, bevor er sich erhob und den Raum verließ.
»Schließ dich anderen Reisenden an, such den Schutz der Gruppe«, hatte Günther ihm geraten. Walther hatte – Isenharts Wunsch entsprechend – den Medicus nicht in die Einzelheiten eingeweiht. Günther von der Braake hatte er erklärt, Isenhart mache sich in seinem Auftrag nach Toledo auf. Die iberische Hauptstadt hatte auch der weit gereiste von der Braake nie betreten, wie er zugab.
Nichtsdestotrotz hatten die beiden alten Männer bis in den frühen Morgen über die günstigste Reiseroute beraten. Toledo lag im Herzen der iberischen Halbinsel, das war bekannt. Die eine Route bewegte sich über Strasbourg und weiter gen Westen durch Frankreich, sah die Überquerung der Pyrenäen vor und mündete in einer geschätzten Strecke von 150 Meilen, die zwischen den Gebirgsausläufern und Toledo lagen.
Die zweite Route – es war jene, die sie Isenhart schließlich ans Herz legten – barg ihre schwierigste Etappe, die in der Überwindung der Alpen bestand, gleich zu Beginn. Aber von Genova aus gab es eine Passage nach Barcelona oder sogar bis nach Valencia, wobei weder Walther noch Günther sicher Auskunft darüber erteilen konnten, in wessen Hand die Stadt sich gerade befand. El Cid hatte sie Ende des 11. Jahrhunderts den Mauren entrissen, und nach seinem Tod eroberten diese sie zurück, so viel war bekannt. Also rieten sie Isenhart, bereits in Barcelona von Bord zu gehen und sich über Zaragoza auf der üblichen Handelsroute bis nach Toledo zu begeben – man konnte nie wissen.
Die beiden schätzten die gesamte Wegstrecke auf 350 Meilen, womit sie gut 80 Meilen zu wenig veranschlagten. Ein Pferd, das nicht den lieben langen Tag im Stall oder auf der Weide verbrachte und den Ausritt gewohnt war, vermochte seinen Reiter etwa fünf Meilen pro Tag zu tragen. Rein rechnerisch war die Distanz für einen berittenen Mann also binnen 54 Tagen zu bewältigen, vorausgesetzt, er machte keine Umwege, wurde nirgends aufgehalten, schlief weniger als sechs Stunden und wurde von einem Pferd mit entsprechender Konstitution getragen, das immer dort, wo sein Reiter sich niederließ, Nahrung und frisches Wasser vorfand. Diese Bedingungen eingerechnet, die der Realität nicht standhielten, ergänzt um den Umstand, durch Umwege auf schwer zugänglichen Trampelpfaden tatsächlich eine beträchtlich längere Strecke zurücklegen zu müssen, kumulierte sich die Reisedauer auf 120 Tage. Das Übersetzen von Genova nach Valencia minderte diese Summe um geschätzte 30 Tage auf insgesamt 90. Hin und zurück 180, wie Isenhart überschlug, plus Nachforschungen in Toledo 200.
Mit etwas Fortune würde Isenhart den Jahreswechsel also wieder in Heiligster begehen.
Dessen Welt stand nach der Unterredung mit seinem alten Lehrer buchstäblich auf dem Kopf. Gegebenheiten, die ihm als Beiläufigkeiten erschienen waren, gewannen plötzlich an Bedeutung und andere, denen er Bedeutung beigemessen hatte, standen nun als Nichtigkeiten da.
Walthers Fürsorge war offenbar auch einer Sorge entsprungen, die dem Umstand galt, dass Sydal seinem Sohn etwas von seiner Seele eingehaucht hatte. Sollte Isenhart ihn wieder aus dem Totenreich zurück in die Welt der Lebenden holen? War etwas von Sydals Seele in ihm, Isenhart, haften geblieben?
Isenhart war nicht nur Schüler gewesen, sondern immer auch ein Objekt der Beobachtung, ein zweibeiniges Experiment, das jederzeit aus dem Ruder laufen konnte. Und was hätte Walther dann getan, schoss es Isenhart durch den Kopf, hätte er ihn ebenso getötet wie seinen Vater?
Walther von Ascisberg wäre zu einer solchen Tat nicht fähig gewesen, das spürte er in seinem tiefsten Innern, aber dann entsann er sich der Geschichte mit den entleibten
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