Isenhart
über das, was hätte sein können, war natürlich müßig, denn was war, war unverrückbar geschehen.
Er atmete einmal tief durch und erhob sich, nahm das letzte Blatt jener Aufzeichnungen, die Isenhart ihm gereicht hatte, und hielt es hoch. Es handelte sich um eine Zeichnung, die ein Rechteck über einer vereinfacht wiedergegebenen Wasserfläche darstellte. Vier Linien, ausgehend von den vier Eckpunkten des Rechtecks, führten nach oben. Und eine, die ihren Ursprung in der vorderen, rechten Ecke hatte, verlief senkrecht nach unten.
»Was stellt das dar?«, fragte Walther, der seine Beherrschung zurückgewonnen hatte und Isenhart nun wieder in die Augen schauen konnte.
Isenhart deutete ein Achselzucken an: »Ich weiß nicht.«
»Ich auch nicht«, gestand sein alter Lehrer. Er legte das Pergament zu den anderen, öffnete, während Konrad mithilfe des Berylls gerade die Flamme einer Ölkerze in Augenschein nahm, eine Kiste, wühlte darin herum und kehrte schließlich mit zwei Schriftrollen zurück, von denen er Isenhart eine reichte.
Der zögerte und warf Walther einen fragenden Blick zu. Von Ascisberg nickte: Nur zu.
Isenhart entrollte das Schriftstück. Und entdeckte das Rechteck mit den vier Linien, die nach oben wiesen, und der einen, die nach unten ins Wasser führte.
»Dieselbe Zeichnung«, stellte er fest.
Walter nickte.
»Derselbe Mann?«, fragte Isenhart.
Von Ascisberg konnte sich trotz des Ernstes der Lage eines anerkennenden Schmunzelns nicht erwehren. Isenhart demonstrierte erneut die erstaunliche Wendigkeit seines Geistes. Er schüttelte den Kopf und reichte ihm die zweite Schriftrolle, die Isenhart sofort öffnete.
De non existentia dei las er zu seiner Überraschung. »Über die Nichtexistenz Gottes?«, fragte er.
»Es stammt von dem Mann, der diese Zeichnung zuerst entworfen hat.«
In einer unwillkürlich sanften Bewegung glitten Isenharts Finger über das bereits brüchige Pergament, über die Schrift, die sich anschickte zu verblassen. Flinken Auges überflog er die Zeilen, um sie in sich aufzusaugen, bevor sie in einer Wölbung der Zeit verschwanden.
»Alleine der Titel ist pure Blasphemie«, stellte Isenhart vorsichtshalber fest.
Sein Mentor nickte. »Statt von Blasphemie sprich lieber vonVorurteil«, riet er ihm, »und sei bei der Lektüre frei vom Vorurteil. Nimm nicht an, was man von dir erwartet, wenn dein alter Lehrer dir einen Rat geben darf, nimm nur an, was dein Verstand dir gebietet.«
Walther und Isenhart stiegen hinauf zu den Tannen, der Winterwind strich über ihre Kleider und durch ihre Haare. Von Ascisberg hatte es vorgezogen, mit Isenhart unter vier Augen zu sprechen, was von Konrads Seite mit keinem Einwand bedacht wurde, viel zu sehr hatten die optischen Möglichkeiten, die der Beryll bot, seine Neugierde erregt.
»Die Zeichnungen – welche von beiden ist das Original«, fragte Isenhart, »die, die wir bei Michael von Bremen vorgefunden haben, oder Eure?«
»Meine«, antwortet von Ascisberg, »aber ich habe sie nicht entworfen. Ich … verwahre sie nur.«
»Und was hat es mit dem Schriftstück auf sich, mit der Nichtexistenz Gottes?«
»Es ist die erste Seite eines Manuskripts. Der Rest ist leider verschollen. Aber die These von der Nichtexistenz Gottes und die Zeichnung stammen von ein und demselben Mann, von Sydal von Friedberg.«
Als er den Namen nannte, beobachtete Walther jede Regung in Isenharts Gesicht. Nur um festzustellen, dass sich bei seinem ehemaligen Schüler daraufhin keine Erkenntnis einstellte. »Hast du je von ihm gehört?«
»Nein.«
»Er war ein junger Bursche, ganz so wie Sigimund und ich. Er hat auch bei Doryläum gekämpft. Wir drei waren Freunde.«
Isenhart war überrascht. Er hörte den Namen dieses Mannes zum ersten Mal. »Ihr habt mir nie von ihm erzählt.«
»Ich wünschte, wir wären keine gewesen«, sagte Walther leise, »das hätte es einfacher gemacht.«
»Was ist passiert?«
»Michael von Bremen hatte Sydal im Kampf das Leben gerettet und dafür mit der Hälfte seines Armes bezahlt. Die Seldschuken hatten mit Scheinangriffen unsere Reiterei zu Ausfällen provoziert.Und als ihnen das gelang, haben sie uns Fußvolk niedergeritten und auf der Flucht zu Hunderten erschlagen. Was für ein Gemetzel, Isenhart.« Von Ascisberg stockte bei der Erinnerung daran kurz die Stimme.
»Gegen Abend haben wir uns am Fuß eines Berges gesammelt, und wir hatten mehr Verletzte als Unversehrte um uns. Michael von Bremen lag im Sterben, und
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