Isenhart
Muselmanen. Um dann zu der Erkenntnis zu gelangen, dass auf viel weniger Verlass war in dieser Welt, als er bisher vermutet hatte.
Obschon Walther ihm versichert hatte, niemand sonst wüsste von seiner Herkunft, empfand er trotzdem das Stigma eines Untoten. Es war Sonderstatus und Ausgegrenztheit zugleich, Giselbert, der Scharfrichter, dürfte eine ähnliche Verlassenheit verspürt haben.
Loretta, seine Mutter, selbst Waise, war im Jahr vor seiner Geburt zum Reisigsammeln im Wald gewesen, als Sydal sie vergewaltigt hatte. Das war Isenhart: das Produkt einer Vergewaltigung. Wenngleich gut ein Drittel der Bevölkerung auf diese Weise gezeugt wurde, wie Walther von Ascisberg ihm erklärte, behagte ihm die Vorstellung nicht sonderlich, Ergebnis eines Gewaltakts zu sein.
»Deine Mutter war schön, Isenhart«, hatte Walther gesagt, »sie hatte ein breites Becken und volle Brüste.« Damit entsprach sie zwar den allgemeinen Vorstellungen von weiblicher Schönheit, aber die Beschreibung ihrer Formen sagte nichts über ihre Persönlichkeit aus. Wie war sie wohl gewesen? Ein phlegmatisches Gemüt oder ein wacher Geist? Bildeten sich freche Grübchen auf ihren Wangen, wenn sie lächelte? Oder war der Glanz ihrer Augen auch beim Anblick eines wundervollen Sonnenuntergangs stumpf? Über Loretta gab es nicht viel zu berichten.
Obwohl Isenhart so gut wie nichts über sie wusste, fühlte er sich ihr aufs Innigste verbunden. Wie sie war auch er ohne Wurzeln. Seine Identität lag ebenso im Dunkeln wie jene Lorettas. Wie seine Mutter hatte er in den Läuften der Geschichte an einem Punkt begonnen zu sein, um irgendwann an einem anderen zu enden.
Sydal dagegen stammte aus Hammaburg.
Laut Walther von Ascisberg spielten sich in der Schlacht bei Doryläum solch unaussprechliche Grausamkeiten ab, dass Sydal von Friedberg den Glauben an den barmherzigen christlichen Gott verlor. Ausgehend von den Erlebnissen bei Doryläum und angereichert durch die Jahre in Toledo an Al-Hariqs Seite, hatte sein Vater offenbar ein Weltbild entwickelt, das keinen Gott mehr brauchte und sich stattdessen auf die Erkenntnisse der Naturwissenschaften stützte.
Als von Ascisberg ihm davon berichtete, meinte Isenhart aus seinen Worten Verständnis für diese Haltung herauszuhören, vielleicht sogar Sympathie. »Aber Ihr glaubt an unseren Schöpfer?«, fragte er deshalb.
Von Ascisberg nickte: »Wie sonst hätte das Sein Einzug halten können in einen unbelebten Kosmos?«
Mit keinem Wort, keiner Silbe erwähnte Isenhart ihm gegenüber den Umstand, dass Walther seinen leiblichen Vater vom Leben zum Tode befördert hatte. Dessen ungeachtet verspürte von Ascisberg einen leisen Schmerz, der in Form einer unbestimmten Wehmut über ihn kam. Und die ihren Ursprung in Isenharts Verhalten hatte. Anstelle seiner Zuneigung – so sie existiert hatte und nicht der Einbildung eines senilen Alten entsprungen war – trat höflicher Respekt. Die Augen des jungen Schmieds, in denen Walther ohne Mühe zu lesen vermocht hatte, blieben ihm verschlossen, obwohl Isenhart seinem Blick nicht auswich. Es war, als habe sich ein unsichtbarer Vorhang über Isenharts Pupillen gesenkt.
Walther von Ascisberg hatte ihn in sein Arbeitszimmer geführt, um ihn dort mit Haller Silbermünzen zu versorgen. Erwartungsgemäß lehnte Isenhart ab.
»Gib einfach nur das Nötigste aus«, schlug Walther daher vor, »und bring den Rest zurück.«
»Ich kann das nicht annehmen«, erwiderte Isenhart.
Konnte er nicht, weil es ihm unangemessen erschien, oder wollte er nicht?
»Ich bin alt, ich besitze das Gut und die Ländereien. Ich brauche das Silber nicht.«
»Ich schaffe es auch so nach Toledo.«
Die Zurückweisung war unüberhörbar.
»Ich will es dir geben, weil ich dich selbst nicht mehr begleiten kann.«
Da war sie wieder, diese ruhige, überlegte Art, die er so sehr an Walther von Ascisberg schätzte und mit der es dem alten Mann unwissentlich gelang, wieder eine Saite in Isenhart zum Schwingen zu bringen. Aber noch sträubte er sich dagegen: »Wer weiß noch davon? Konrad? Sophia?«
»Niemand, der noch am Leben ist – außer mir.«
»Sigimund von Laurin«, sagte Isenhart. Es war mehr eine Feststellung denn eine Vermutung.
Sein Kombinationsvermögen ist schneller als meines, erkannte Walther neidlos an. »Ja, Sigimund. Aber er hat es mit ins Grab genommen.«
Die Gewissheit, in seinem alten Lehrer den einzigen Geheimnisträger vor sich zu haben, beruhigte Isenhart, ohne dass er den
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