Isenhart
Sydal fühlte sich für ihn verantwortlich, verstehst du? Er stand tief in von Bremens Schuld.« Er legte eine kurze Pause ein und ließ den Blick über die Schneewehen schweifen.
»Allerdings hatten wir auch einige Gefangene gemacht. An denen entlud sich am Abend unser Zorn. Sie wurden enthauptet, verbrannt und zu Tode gefoltert. Einer von ihnen war ohne Waffen und nach eigenem Bekunden ein arabischer Medicus und Gelehrter. Sydal von Friedberg und er schlossen einen Pakt: Wenn es dem Araber gelang, Michael von Bremen zu retten, würde Sydal sich für sein Leben einsetzen. Und damit begann diese unselige Geschichte.«
Und so erzählte er Isenhart von dem Ansinnen des Arabers, man müsste das Herz eines starken Gefallenen herausschneiden und Michael von Bremen zu essen geben. Sydal und der Medicus, dessen Name Ibn Al-Hariq war, streiften durch die Linien der Gefallenen, die Vögel nahmen Reißaus vor ihnen. Unter den erschlagenen Kreuzfahrern befand sich ein Freund Simon Rubinsteins, den Sydal und der Araber schließlich als den stärksten Toten identifizierten, den sie finden konnten.
Als sie ihn zu öffnen begannen, war Walther zur Stelle. Er verbot ihnen, den Leichnam zu schänden.
»Die Seele ist aufgefahren«, sagte Sydal, »er braucht sein Herz nicht mehr.« Sydal von Friedberg war noch jung, ein drahtiger Kerl. Und unter seinem dichten Haar, das ihm weit in die Stirn fiel, blickten Walther zwei strahlend blaue Augen an.
»Leg Hand an ihn, Sydal, und deine Hand bleibt in Doryläum«, entgegnete Walther.
Sie gerieten auf der Stelle in einen heftigen Streit, der darin mündete, dass Sydal mit dem Araber das Weite suchte. Walther schlug sein Nachtlager neben dem Erschlagenen auf. Als er in denfrühen Morgenstunden erwachte, war der Torso des Toten geöffnet, das Herz entnommen und Sydal mit dem Ibn Al-Hariq über alle Berge.
»Sie haben«, schloss Walther seine Erzählung, »Michael von Bremen das Herz verspeisen lassen.«
Isenhart musste bei der Vorstellung, was sich dort in Kleinasien abgespielt hatte, unwillkürlich schlucken. »Also ist Michael von Bremen gesundet«, schloss er.
Walther nickte: »Ja, das war in der Tat … erstaunlich. Ich habe mich in den Jahren danach oft gefragt, ob der heidnische Gelehrte einfach nur vom Glück der Stunde gesegnet worden war – oder ob er schon Wissensräume durchschritten hatte, von deren Existenz ich noch nicht einmal eine ferne Ahnung besaß. Michael von Bremens Wunde verheilte ohne jede Komplikation, er erlangte eine beeindruckende Stärke. Und zurück im Reich zog er sich nach Tarup zurück.«
»Und Sydal?«
»Das ist nicht ganz klar. Nach dem, was mir zugetragen wurde, schiffte er sich in Konstantinopel zusammen mit Ibn Al-Hariq nach Valencia ein.«
»Wo ist Valencia?«
»Es liegt auf der iberischen Halbinsel und hat einen Mittelmeerhafen.«
Isenhart hatte nur eine grobe Vorstellung von der Lage Valencias. Südlich von Frankreich, vermutete er.
»Von Valencia aus stieß er bis nach Toledo vor, inzwischen Hauptstadt der Iberer«, fuhr Walther fort, »da verbrachte er gut zehn Jahre, bevor er ins Reich zurückkehrte.«
»Was hat Sydal von Friedberg in Toledo getan?«
Walther von Ascisberg deutete ein Achselzucken an. »Ich weiß nur, dass er als ein anderer zurückkam.«
»Als ein anderer?«
Sein alter Lehrer blickte an ihm vorbei. Nicht etwa, weil etwas in sein Gesichtsfeld geraten war, das seine Aufmerksamkeit auf sich lenkte, sondern weil er sich sammeln musste, bevor er weitersprach.
»Er kam zurück und tötete Jungfrauen«, sagte Walther und richtete die Augen wieder auf ihn, »Sydal tötete die Jungfrauen und sezierte ihre Herzen aus den Leichen.«
»Warum hat er das getan?«
»Ich weiß es nicht. Ich habe Sydal von Friedberg … ich habe ihn am 24. September 1172 erschlagen.«
»Euren Freund.«
»Meinen Freund, der zu einer Bestie geworden war«, korrigierte Walther ihn erzürnt, »jemand musste ihm Einhalt gebieten. Ich habe ihn drei Jahre lang kreuz und quer durch das Reich gejagt.«
Isenhart musste erst verarbeiten, was er soeben von seinem Mentor erfahren hatte. »Ihr glaubt nicht, dass Michael von Bremen die Morde begangen hat.«
»Das habe ich nicht gesagt.«
»Aber Ihr haltet es für unwahrscheinlich.«
Walther von Ascisberg starrte auf den Schnee zu seinen Füßen.
»Was wollt Ihr mir sagen? Dass wir es mit einem Wiedergänger von Sydal von Friedberg zu tun haben?«
»Ich glaube nicht an Wiedergänger.«
»Ihr sagtet,
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