Isenhart
um Zeit zu gewinnen.
»Die zehn Tage, um die Ihr mich in Heiligster gebeten hattet, sind vorbei«, erwiderte Isenhart trocken, fast beiläufig.
War der junge Schmied früher zu ihm gekommen und waren ihm die Worte – oder vielmehr die Fragen – ungeprüft aus dem Mund gesprudelt, wählte er sie heute mit Bedacht, ein Umstand, der Walther zu Vorsicht ermahnte. Hier trat ihm kein Schüler mehr gegenüber, sondern ein Ebenbürtiger.
Isenhart griff unter sein Hemd, holte einige Pergamente hervor und legte sie in den Schein der Öllampe. »Das haben wir bei Michael von Bremen gefunden«, sagte er nur und vermied jede Bewertung.
Vor Walthers Augen verschwammen die Linien, die er auf dem Pergament entdeckte. Er griff nach einem transparenten Stein und hielt ihn dicht vor sein Auge, um die gezeichneten Linien zurück in die Schärfe zu bannen.
»Was ist das?«, fragte Konrad interessiert und trat näher.
Von Ascisberg spürte die Anspannung, die diese Verzögerung bei Isenhart auslöste. Er nahm den Stein vom Auge und sah zu Konrad auf. »Das ist ein Lesestein.«
»Kann er lesen?«, fragte Konrad verwirrt und starrte auf den Stein.
Walther musste unwillkürlich lächeln, Isenhart erging es nicht anders, wie er mit einem kurzen Seitenblick feststellte. Kurz war sie wieder da, die vertraute Nähe, bis Isenharts Lächeln verschwand und so den Platz für etwas Unbekanntes schuf, das sich zwischen sie senkte.
»Nein«, antwortete von Ascisberg, »es ist ein Beryll. Ein Stück von einem Bergkristall, und wenn man ihn vor sein Auge hält, erscheinen einem die Dinge größer. Vielleicht werden ihn die Menschen eines Tages vor ihren Augen tragen, den Beryll.«
Konrad verstand ohne Weiteres die Worte, aber der Sinn dahinter blieb ihm verborgen.
Walther reichte ihm den Kristall. »Hier, sieh selbst.«
Konrad ergriff bereitwillig den Stein, wandte sich einer Spinne zu, die reglos in ihrem feinen Netz verharrte, und hielt sich den Beryll vor das Auge, um sofort zurückzuschrecken.
Isenhart warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu, weil er mit seinem Gehampel das ernste Anliegen untergrub, in dessen Absicht Isenhart das Zimmer seines Mentors betreten hatte.
»Sie war plötzlich ziemlich groß«, brachte Konrad zu seiner Verteidigung vor, »sie hat Haare an den Beinen. Ich hab so was noch nie gesehen.« Mit dem Beryll zwischen den Fingern inspizierte er den Rest des Arbeitszimmers. Ihm war, als entdecke er eine neue Welt.
»Wie auch immer«, sagte Isenhart und deutete auf die Pergamente, die er Walther von Ascisberg hingelegt hatte, »das haben wir bei von Bremen gefunden.«
Walther nahm einen zweiten Beryll zur Hand und beugte sichüber die Pergamente, die Isenhart ihm gereicht hatte. Studierte die feinen Federzeichnungen, denen Sektionen des menschlichen Körpers vorangegangen sein mussten, denn anders war ihr Entstehen nicht zu erklären. So viel Abstraktionsvermögen gab es nicht. »Er hat Körper geöffnet«, sagte Walther.
»Ganz recht«, bestätigte Isenhart.
Walther von Ascisberg blätterte um und stieß auf jene Zeichnung, die auch für Henning und Isenhart ein Rätsel dargestellt hatte. Isenhart nahm wahr, wie sein Lehrer bei dem Anblick erstarrte. Sich mit dem Finger nervös über die ausgetrockneten Lippen fuhr. Und entschied, dass dieses der rechte Moment war.
»Als ich Euch von Michael von Bremen berichtete, habt Ihr gesagt, Ihr kennt diesen Namen nicht«, stellte Isenhart fest, »Ihr habt gesagt, Ihr hättet noch nie von ihm gehört, richtig?«
Walther hob den Blick, und Isenharts Miene ließ keinen Zweifel: Jetzt gab es kein Ausweichen mehr. Jetzt hatte es ihn eingeholt.
»Ja«, sagte er matt. Und dabei streifte ihn die Ahnung, wie ein Fuchs sich am Ende einer Treibjagd wohl fühlen mochte.
»Ihr habt mit Konrads Vater auf Eurem Kreuzzug nach Jerusalem 1147 bei Doryläum gegen die Seldschuken gekämpft, so war es doch?«
Jahrzehntelang hatte Walther von Ascisberg sich auf diesen einen Augenblick vorbereitet, um nun festzustellen, dass er es nicht war. Aber er nickte.
»Ich weiß von dem Vater einer Herberge, dass Michael von Bremen auch in dieser Schlacht gekämpft hat. Und nicht nur das. Er hat dort seinen Arm verloren.«
Walther wagte nicht aufzublicken. Hatte er Schuld auf sich geladen? Hätte er Isenhart einweihen müssen? Aber was, wenn das zu früh geschehen wäre, zu einem Zeitpunkt, als Isenharts Geist noch weit formbarer war? Von Ascisberg schüttelte leicht den Kopf. Die Spekulation
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