Isenhart
Kammer befand sich bereits ein Mann, der sie gerade zu verlassen gedachte, als Konrad eintrat. Um ein Haar stießen sie zusammen, aber beide waren geistesgegenwärtig genug und zuckten im entscheidenden Augenblick rechtzeitig zurück.
Der Mann, dessen Gesicht Konrad im Dunkel kaum erkannte, war kräftig, das ließ seine Statur ahnen. Und er war genauso groß wie er.
Marco Rays Kinder konnten nicht länger an sich halten, sie prusteten los. Und das genau in dem Moment, in dem zu dem Mann in der Kammer ein zweiter trat. Kleiner, schmaler. Konrads Verblüffung war perfekt, zumal neben ihm jemand erstarrte. Und der zweite Mann neben seinem Gegenüber ebenfalls.
Es war Isenhart. »Wir spiegeln uns«, stellte er erstaunt fest.
Marco Ray sprang vom Tisch auf, und wie eine Traube von Ratten, die ungestört in der Dunkelheit ihren Verrichtungen nachgingen und plötzlich vom Licht überrascht wurden, schossen die Kinder lachend auseinander. Sie tauchten unter dem Tisch weg, drückten sich durch einen Spalt in einen anderen Raum oder gaben einfach Fersengeld.
Fluchend schnappte ihr Vater sich eine der beiden Öllampen, mit deren Hilfe er die Kammer erhellte. Direkt hinter der geöffneten Tür hatten Rays Kinder einen mannshohen metallenen Spiegel aufgestellt.
»Ich habe es ihnen hundert Mal gesagt«, schnaubte Signor Ray, »dieser Spiegel ist unglaublich teuer. Wenn Ihr mit anfassen würdet?« Er legte die Hände an die eine Seite des Spiegels, um ihn in Sicherheit zu bringen.
»Augenblick«, sagte Konrad und wandte dabei nicht die Augen von seinem Spiegelbild. Er trat – wie Isenhart auch – näher an die reflektierende Glasfläche. Die beiden betrachteten intensiv ihr eigenes Konterfei.
Konrad fuhr sich über die Narbe am Auge. »Ich dachte, die ist viel größer«, stellte er mit einer Spur Enttäuschung fest.
Isenhart schwenkte den Kopf erst leicht nach links, dann nach rechts, wobei er seine Halbprofile einer aufmerksamen Musterung unterzog.
»Ihr tut gerade so, als würdet Ihr Euch zum ersten Mal anschauen«, sagte Signor Ray, die Wut über den Schabernack seiner Kinder lag noch in seiner Stimme.
Isenhart musste nur den Blick heben, um diese Vermutung zu bestätigen. Selbstverständlich hatten sie sich schon betrachtet, im Blech eines Eimers, im Schimmer der Klinge eines Schwertes, in Wasser, das ihr Ebenbild zurückwarf.
Aber so hatten sie sich wahrhaftig noch nie gesehen. Klar und plastisch, scharf und detailliert.
»Ich hab abstehende Ohren«, bekannte Konrad.
»Weil Vater Hieronymus immer dran gezogen hat«, ärgerte Isenhart ihn.
»Wir haben es dir immer verheimlicht«, revanchierte Konrad sich, »aber jetzt siehst du ja selbst, was für eine große Nase du hast.«
Später hätte Isenhart nicht zu sagen gewusst, ob er – vor die Wahl gestellt – sein gespiegeltes Bildnis hätte sehen wollen oder nicht. Als Signor Ray den Spiegel aber unbeabsichtigt etwas verrückte und sie beide, um ihr Abbild nicht aus den Augen zu verlieren, folgen mussten, änderte sich auch der Hintergrund. Schrägüber ihnen hatte jemand ein großes Stück groben Leinens an der Decke vertäut.
Isenhart wandte sich vom Spiegel ab und nahm das, was er wiederzuerkennen glaubte, in direkten Augenschein. »Was ist das?«, fragte er.
Signor Ray folgte seinem Blick. »Ein Knoten«, antwortete er.
»Ich weiß«, erwiderte Isenhart, dem es nicht gelang, die aufkeimende Aufregung aus seiner Stimme zu bannen, »das ist ein besonderer Knoten. Habt Ihr ihn gefertigt?«
Marco Ray deutete ein Kopfschütteln an: »Mein Schwiegervater. Er hat auf einer Galeere gedient. Es ist ein Seemannsknoten. Die Leute nennen ihn Augspleiß.«
»Augspleiß«, hatte Isenhart ebenso leise wie feierlich wiederholt.
Dieses war der Zufall, an den Isenhart denken musste, als sie den höchsten Punkt der Alpen mithilfe der widerspenstigen Maultiere, die den Karren mit den Butterfässern zogen, überquert hatten.
Hätten die Kinder an diesem Abend den Spiegel nicht aufgestellt, wäre Isenhart der Knoten überhaupt nicht aufgefallen, ja, er hätte sich nicht nach seinem Namen erkundigt. Zu dem Zufall gesellte sich der Umstand, dass Signor Ray den Spiegel verschob und der Augspleiß erst dadurch in Isenharts Gesichtsfeld geriet. Ansonsten – hier galt es abermals – hätte er ihn nicht bemerkt.
Aber all dies war nur das Ende einer Kette von Zufällen.
Hätte er Walther von Ascisberg nicht bedrängt, dieser hätte ihn womöglich nie über seine
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