Isenhart
Identität aufgeklärt, er wäre also nie nach Toledo aufgebrochen. Aber nur deshalb hatte Isenhart Genua erreicht, wo der Zufall es wollte, dass sie auf Andrea Centurión trafen, und der noch viel größere Zufall führte sie just auf ihrem Rückweg erneut mit ihm zusammen. Und wäre auch das nicht vorgefallen, sie hätten niemals Marco Ray in Milano aufgesucht.
Vielleicht, überlegte er, verbarg sich hinter dieser Abfolge von Zufällen das Angesicht der göttlichen Fügung.
Wie auch immer: Den Augspleiß hatte er schon einmal gesehen. In einer solchen Schlinge hatte sich Michael von Bremen erhängt.
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29.
uf dem Weg zurück nach Heiligster passierten sie Tutenhoven. Isenhart überzeugte Konrad, eine kurze Rast einzulegen, um mit Walther das auszutauschen, was unaufschiebbar anmutete – dass Sydal Isenhart eine Botschaft hinterlassen hatte und wie es um Henning stand –, und dann nach Hause zu reiten, damit Konrad endlich sein Kind in die Arme schließen konnte.
Von Süden kommend erreichten sie zunächst jene Stelle, die Walther aufsuchte, wenn er nicht von Cecilia gestört werden wollte. Die drei Tannen deuteten mit ihren Spitzen in Ptolemäus’ Kosmos. An diesem Platz studierte der alte Mann den Almagest.
»Da ist ein Kreuz«, stellte Konrad fest. Isenhart folgte seinem Blick und entdeckte das schlichte Symbol nun ebenfalls.
Henning ist tot.
Das schoss ihm als Erstes durch den Kopf. Die verwandte Seele, auf die er endlich gestoßen war, wider Erwarten und gegen jede Wahrscheinlichkeit, er hatte sie wieder verloren in ihrer beider Streben, die gegebenen Grenzen zu überwinden.
Ein kurzes Brennen huschte über seine Wangen, als Isenhart sich den Hoffnungsschimmer vergegenwärtigte, der für den Bruchteil eines Moments sein Herz durchzog, nämlich auf dem Holzkreuz möge Cecilias Name stehen und nicht Hennings.
Aber auf dem Kreuz las er keinen der beiden Namen. Die Inschrift lautete: Walther von Ascisberg, 1130 – 1197 .
Isenhart stieg ebenso wie Konrad vom Pferd und trat an das Grab heran. Einige Augenblicke lang war er unfähig, auch nur einen einzigen Gedanken zu fassen. Danach erhob sich aus dem Gefühl des unsagbaren Verlustes eine Beklemmung, die ihm den Brustkorb zusammenpresste. Er ging vor dem Kreuz auf die Knie, die Tränen liefen ihm übers Gesicht.
Wann immer Isenhart sich mit einem Problem konfrontiert gesehen hatte, an dem seine Ratio scheiterte, ganz gleich ob konkreter oder hypothetischer Natur, hatte es stets jemanden gegeben, an den er sich wenden konnte.
Für alle Probleme des Lebens hatte Walther von Ascisberg den sicheren Hafen gebildet, in den Isenhart jederzeit einlaufen und anlegen durfte. Er gab ihm die Antworten, die er selbst nicht fand, hatte die Lösungen parat, die er selbst zu erschließen nicht imstande war. Falls Isenhart also jemals an einen Punkt gelangte, an dem er sich nicht mehr zu helfen wusste, musste er sich nur auf den Weg nach Tutenhoven machen. Das, wie Isenhart an dessen letzter Ruhestätte erfasste, war es, was Walthers Wesen ausgemacht hatte: Er war nie um eine Antwort verlegen. Gegenüber niemandem.
Walther von Ascisberg hatte stets seine Hand über Isenhart gehalten. Das untote Kind stand unter seinem Schutz. Das Tor zu diesem Refugium war dem untoten Kind nun für den Rest seines Lebens verschlossen. Ab jetzt war Isenhart gänzlich auf sich alleine gestellt.
Dies war, Sophia hatte es treffend ausgedrückt, das Ende der Kindheit.
Einige Herzschläge später spürte er die große Hand des jungen Laurin auf seiner Schulter. Konrad sprach kein Wort, die Hand bewegte sich nicht, sie war ganz ruhig und versicherte Isenhart lediglich der Anwesenheit des Freundes.
»Es ist das Ende der Kindheit«, hatte Sophia auf Isenharts Frage geantwortet. Er hatte damals zwei Jahre in Heiligster verstreichen lassen, bevor er es wagte, sie auf den Tod ihrer Eltern anzusprechen. Es hatte bis zum Mittag des 10. Juni 1198 gedauert, bis Isenhart auch diese Erfahrung mit Sophia teilte. Der Tag, an dem seine Kindheit endete.
»Sie haben ihn unweit der Stadtmauer gefunden«, sagte Zolner mit zitterndem Unterkiefer, nachdem sie Tutenhoven erreicht hatten. Dieses war die heftigste Gefühlsregung, die Konrad je an dem Mann beobachtet hatte.
»Man hat ihm den Schädel eingeschlagen«, fügte Zolner hinzu, »den Schädel eingeschlagen und ihn neben einem Abwassergraben verenden lassen wie einen Hund.«
»Wann?«, fragte Isenhart, dem es alle Kraft abverlangte,
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