Isenhart
verführerischen Reiz aus, und man muss in sich ruhen, um diesem standzuhalten. Er kann den Geist anderer in Brand setzen. Das macht seine Gefährlichkeit aus. Daher beschloss ich, er könne am wenigsten anrichten, wenn er tot ist.
Aber als ich ihn stellte, habe ich es nicht über mich gebracht, diesen Zugewinn für die Welt – den er neben seinen verachtenswerten Taten zweifellos darstellte – auszulöschen. Er gab mir sein Wort, nie wieder zu töten, den Fuß nicht auf deutschen Boden zu setzen und Dich niemals aufzusuchen. Danach ließ ich ihn gehen. Dein Vater wusste, dass er für alle, die im Heiligen Römischen Reich je mit ihm in Kontakt gestanden hatten, als ein toter Mann gelten würde. Nur dadurch konnte die Gefahr, die von ihm ausgeht, gebannt werden. Sydal von Friedberg ist wie der Krebs. Er wuchert und wächst, und wenn man ihn nicht herausschneidet, dann befällt er gesundes Gewebe und schließlich den gesamten Organismus.
Ich hoffe, Du kannst mir diese Täuschung, die ich zu Deinem Guten betrieben habe, nachsehen.
Damit endete die erste Seite von Walthers Nachricht. Isenhart legte das Blatt neben sich, nachdenklich ließ er seinen Blick durch die Kammer schweifen, bis er auf dem Beryll zum Stillstand kam. Ja, Walther hatte ihn belogen, aber nicht aus Niedertracht, sondernaus Fürsorge. Es fiel Isenhart nicht schwer, ihm zu verzeihen. Aber er fragte sich, in welchen Bahnen sein Leben verlaufen wäre, wenn sein leiblicher Vater ihn aufgezogen hätte. Wer er dann heute wäre. Aus welchem Stoff sein Wesen bestünde. Die Frage hinter all diesen Erwägungen lautete: Was wäre, wenn? Und sie, das wusste Isenhart, weil er bereits bei anderen Gelegenheiten lange genug darüber gegrübelt hatte, war dazu angetan, einen direkt in den Wahnsinn zu treiben.
Also sammelte er seine Gedanken wieder und bändigte sie, indem er das zweite Blatt vor seine Augen hob.
Tutenhoven und all mein Hab und Gut sollen in Deinen Besitz übergehen. Falls Du die Dienste von Zolner und Cecilia nicht länger in Anspruch nehmen willst, erweise mir den Gefallen und entlasse sie großzügig.
Ich danke dem Herrn, dass unsere Lebenswege sich gekreuzt haben und für eine gewisse Spanne nebeneinander verlaufen sind. Ich wurde nie Vater, aber ich habe jetzt eine Ahnung, wie es ist, einer zu sein.
Möge der Schöpfer über Dich wachen, Dich schützen und Dir ein langes Leben und einen kurzen Tod bescheren.
Damit endete Walthers Brief.
Isenhart löschte das Licht der Talgkerze und schlang sich das Leinen um den Leib. Er atmete noch einmal den Geruch Walther von Ascisbergs, wollte ihm noch einmal nahe sein, ihn ein letztes Mal in die Arme schließen.
Der Morgentau hing in den Gräsern und auf den Blättern.
Isenhart hatte bei Sonnenaufgang die kleine Anhöhe bestiegen und warf von dort einen Blick auf das Land, das er nun sein Eigen nennen durfte. Er kniete vor der letzten Ruhestätte seines Mentors und übergab ihm den Heiligen Christophorus, indem er das Medaillon an die rechte Seite des Kreuzes hängte.
Auch am Grab war der Tau allgegenwärtig. In der Gestalt birnenförmiger Tropfen hing er am Kreuz und an den feinen Strängen des Netzes, das eine emsige Spinne in dem Winkel gewebt hatte, den das Längs- und das Querstück des Kreuzes bildete.
Das Wunder des Lebens, dachte Isenhart. Nichts hielt inne, weilein geliebter Mensch von der Erde verschwunden war, nichts erstarrte voller Ehrfurcht. Alles nahm seinen gewohnten Gang; die Natur, die Schöpfung kümmerte es nicht. Walther von Ascisberg war nicht mehr, und sie war. Das war der entscheidende Unterschied.
Bevor er aufgebrochen war, hatte er die Notizen seines ermordeten Lehrmeisters in der Hoffnung durchsucht, etwas möge ihm einen Hinweis auf dessen Mörder geben. Anagramm, das war das letzte Wort, auf das Isenhart in den Niederschriften seines Mentors gestoßen war. Anagramm.
Er wusste sehr wohl, dass man es als Anagramm bezeichnete, wenn jemand aus den Lettern eines Wortes ein anderes bildete, aus Bier das Wort Brei, aus Donner Norden und aus Norden wiederum Dornen. Doch dieses Wissen half Isenhart nicht, weil er das Wort nicht kannte, in dem Walther von Ascisberg ein Anagramm entdeckt haben wollte.
Er atmete einmal tief durch und erhob sich. Er wagte den Blick mitten in die aufgehende Sonne, bis die Helligkeit des Gestirns erst einen stechenden Schmerz und dann ein pulsierendes Gebilde auf seinem Auge hinterließ.
Dieses Gebilde würde an Kontur und Intensität
Weitere Kostenlose Bücher