Isenhart
verlieren, eine Weile nachglühen und dann ganz verschwinden. Ebenso würde es ihm mit Walthers Antlitz ergehen. Schon jetzt, nach seiner Reise nach Toledo, konnte er nicht mehr jedes Detail von Walthers Erscheinung aus seinem Gedächtnis abrufen.
Das Phänomen des Verblassens der Bilder von Toten war für Isenhart nicht neu, er hatte es bereits mit Bestürzung nach Annas Verlust erfahren. Später hatte er sich einmal mit Walther von Ascisberg darüber unterhalten, der ihm versicherte, dass dabei keine Fehlleistung seines Geistes vorlag, es sich vielmehr um einen ganz normalen Vorgang handelte. Einem, dem möglicherweise die Güte des Herrn innewohnte.
So wurden die Umrisse vage, die Konturen flossen aus ihren Bahnen und gaben den Inhalten keinen Halt mehr, sie ergossen sich über die Ränder, und über alles legte sich Nebel.
Und wenn all jene, die Walther von Ascisberg persönlich gekannt hatten, ebenfalls vor ihren Schöpfer getreten waren, würde jedekonkrete Erinnerung an ihn ausgelöscht sein, es wäre, als hätte er nie gewirkt, als hätte das Gedächtnis der Welt entschieden, ihn nicht länger beherbergen zu müssen, da er nichts mehr auszurichten vermochte und in diesem Sinne wertlos geworden war.
Isenhart durchfuhr ein Schauer ob dieses Gedankens, der eines Tages auch ihm gelten würde. Er warf einen letzten Blick auf das Grab, bevor er die Anhöhe hinabstieg und Zolner bat, das Gehöft in seinem Namen zu führen, solange er unterwegs war.
Am frühen Vormittag machte sich Isenhart auf den Weg nach Heiligster.
Er war überzeugt davon, dass Michael von Bremen nicht Annas, Ketlins und Liliths Mörder gewesen war. Und er glaubte auch nicht an den zufälligen Tod seines Mentors. Der Mann, der vermutlich auch den Mönch und Walther von Ascisberg auf dem Gewissen hatte, befand sich höchstwahrscheinlich noch auf freiem Fuß.
Isenhart erinnerte sich an Konrads Worte über das Muster, dem die bisher Ermordeten entsprachen. Jungfrauen, denen das Herz geraubt worden war. Der ermordete Mönch, sein Name war Jobst gewesen, fügte sich scheinbar nicht ein. Er war ein Mann, und ihm fehlten die Augäpfel, nicht das Herz.
Dessen ungeachtet bildete Jobst aus der Nähe betrachtet die logische Fortsetzung der Opferkette. Denn nachdem den Klerikern bereits 306 nach Christi in der Synode von Elvira die Enthaltsamkeit auferlegt worden war, der 1139 auf dem Zweiten Lateranischen Konzil der Zölibat folgte, also das Verbot der Ehe oder des Lebens an der Seite einer Konkubine – der Bischof von Passau wäre um ein Haar vom tobenden Klerus gelyncht worden –, waren Geistliche rein.
Die Reinheit hatten Ibn Al-Hariq und Sydal von Friedberg als das Kriterium der Wertigkeit festgelegt – diese Aussage Ibn Khamuds hallte in Isenharts Kopf nach.
Je reiner die Seele, desto wertvoller.
Das Geschlecht spielte für den Täter jedoch keine Rolle. Zudem vermuteten die Gelehrten in der Puente den Sitz der Seele hinter den Augen und nicht mehr im Herzen – worauf die fehlenden Augäpfel verwiesen. Und Jobsts Mönchstum garantierte Unbeflecktheit.
Während ihrer Zeit in Heiligster hatten sich in Spira diverse Totschläge und Morde ereignet. Kein einziger aber hatte es vermocht, das Interesse von Walther von Ascisberg zu wecken, geschweige denn, sich deshalb nach Spira zu begeben.
Für den ermordeten Mönch aber hatte er die Mühsal auf sich genommen, die ein Ritt von Tutenhoven nach Spira für einen 67-jährigen Mann bedeutete. In diesem Alter, in dem Bewegung zwangsläufig mit Schmerzen verbunden war, konnten nur höchste Dringlichkeit und unaufschiebbare Notwendigkeit Grund für von Ascisbergs Reise gewesen sein.
Isenhart fand sich nicht in der Lage, es zu beweisen, aber er war sich sicher, dass sein Lehrer Jobst, den Mönch, als ein Opfer des mehrfachen Mörders angesehen hatte. Mehr noch: Sein Mentor hatte der Mordserie ein Ende bereiten wollen.
Allzu gerne hätte Isenhart sich in all diesen Punkten der Ratschläge Ibn Khamuds und des Basars versichert, aber die Antworten würde ihn anderthalb Jahre Reisezeit kosten. Vielleicht würde die Verständigung auf Distanz durch kluge Erfindungen eines Tages weniger Zeit in Anspruch nehmen. Doch darauf konnte Isenhart natürlich nicht warten.
Und das musste er auch nicht.
Es gibt nichts Zwingenderes als die Logik.
Die Logik nahm ihm diese Wege ab. Dies und Isenharts Eingebung, die Vorgänge mit den Augen des Mörders zu betrachten, führte ihn näher zur Quelle. Beide Faktoren
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