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Isenhart

Isenhart

Titel: Isenhart Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Holger Karsten Schmidt
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fuhr seinem Vater noch einmal sanft über die Stirn. Der weit geöffnete Mund von der Braakes fiel in sich zusammen. Wider Isenharts Erwarten verformten sich die trockenen, schmalen Lippen des Medicus zu einem Lächeln. »Der Faden«, hauchte er nahezu unhörbar.
    Isenhart verstand nicht.
    »Dort«, wies Henning ihn auf einen Faden hin, der vom Rand des Lagers hinabhing und zum Teil ins Wasser ragte. Der Teil, der sich oberhalb der Wasseroberfläche befand, war schwarz, derjenige, der ins gefüllte Becken reichte, weiß.
    Aber Isenhart begriff den Sinn der Markierungen nicht. Was hatte es mit diesem Stück gefärbten Hanfs auf sich? Warum rief er auf dem Gesicht eines sterbenden Mannes ein Lächeln hervor? Instinktiv hob er den Blick und entdeckte nun unter jedem der aufgehängten Lager einen zweifarbigen Hanffaden.
    »Vater«, raunte Günther von der Braake, es war der letzte Hauch, der ihm über die Lippen kam, kraftlos sackte sein Kopf zur Seite, und es gab nichts mehr, was seinen Blick noch hielt.
    »Der Faden«, sagte Simon von Hainfeld und hielt die Fackel näher. Isenhart registrierte, wie sich ein kleines Stück des weißen Teils aus dem Wasser erhob.
    Günther war von ihnen gegangen und stand nun vermutlich bereits seinem Schöpfer Rede und Antwort über sein Leben. Wenn Isenhart nicht alles täuschte, brannte er alsbald in der Hölle.
    Und während Henning seinem Vater die Lider schloss, ihn auf die Stirn küsste und seine Hände über dem Brustkorb faltete, blickte Isenhart hinauf zur Decke, zu den Weidenruten, an denen die Aufhängung befestigt war.
    Weidenruten wurden zur Errichtung von Gebäuden nicht verwendet, denn sie waren elastisch. Diese Eigenschaft ermöglichte es allerdings, dass sie sich je nach Gewichtszunahme oder – abnahme spannten oder entspannten. Sobald sie Günthers Leichnam vom Lager hoben, würden die Ruten sich noch mehr entspannen und auf diese Weise das Lager anheben, was den Hanffaden noch weiter aus dem Wasser ziehen würde.
    Das war es. Das Lager war so aufgehängt worden, um jede Gewichtsveränderung mittels der farbigen Teile des Fadens sichtbar machen zu können. Und im Augenblick des Todes war Günther von der Braake leichter geworden. Die gedehnten Weidenruten hatten das Lager um ein Minimum angehoben, um diese Winzigkeit, die der weiße Teil des Hanfes symbolisierte. Menschen und Tiere ruhten nicht auf Lagern – sondern auf Waagen.
    »Sydal von Friedberg«, sagte Isenhart tonlos.
    Henning, der vor seinem Vater verharrte und stumm ein Gebet sprach, richtete die Augen auf ihn.
    »Wie viel Grän?«, fragte Isenhart. Dieser unglaubliche Gedanke, den Henning und sein Vater hier in diesem Gewölbe in die Tat umgesetzt hatten, hatte ihn mit jeder Faser erfasst.
    »Du … hast begriffen, was hier vor sich geht?«, fragte Henning von der Braake erstaunt.
    »Elastische Weidenruten«, antwortete Isenhart, »die Markierung des Fadens. Ihr messt kleinste Gewichtsveränderungen. Und wenn Ihr das messt, was ich glaube, dann lasst Euch nicht dabei erwischen.«
    Über Hennings Mund zog ein kurzes Lächeln, er sah zu Simon von Hainfeld. »Jetzt weißt du, wovon ich gesprochen habe«, ließ er den Hünen nicht ohne eine Spur Stolz, die er aufgrund Isenharts zügiger Auffassungsgabe hegte, wissen. »Wir werden geschützt«, beruhigte er daraufhin den Freund, »der Burgherr hält seine Hand über uns.«
    Henning hob die Decke und bedeckte das Antlitz seines Vaters, aus dem jede Spannung gewichen war. »Wir müssen exaktere Messmethoden entwickeln«, räumte er ein, »aber wir messen mit geringen Abweichungen nach oben und nach unten eine Veränderung um fünfzig Grän.«
    Isenhart hatte nicht viele Momente in seinem Leben erlebt, indenen er sprachlos war. Doch dieses war so ein Augenblick. Er bewunderte die kühle Klarheit von Hennings Gedanken ebenso wie die Unverfrorenheit, mit der er trotz des Risikos eines klerikalen Gerichts über ihn und die Ahndung seiner Vergehen unbeirrt seinen Weg verfolgte.
    »Das ist großartig«, platzte es aus Isenhart heraus, und er konnte nicht umhin, Hennings Hand in die seine zu nehmen und zu pressen, »fünfzig Grän.«
    Henning von der Braake nickte, und obschon die warme Leiche seines Vaters neben ihm lag, entlockte ihm Isenharts ehrliche Begeisterung ein Lächeln.
    »Egal, ob Mann oder Frau?«, fragte Isenhart.
    Henning nickte: »Und egal ob Kind oder Greis.«
    »Die Tiere?«, fragte Isenhart und deutete mit dem Kopf zu der Ziege.
    »Kein Gran«,

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