Isenhart
Michael von Bremen.
Was natürlich die Frage aufwarf, weshalb er das getan hatte und wieso er seine Tat als Selbsttötung von Michael von Bremen getarnt hatte. Was war sein Motiv? Endlich hatten sie ihn gefasst, endlich den vermeintlichen Mörder Annas und Liliths und von Britts kleiner Schwester in die Enge getrieben, endlich konnten sie ihn fragen nach dem Warum. Und Günther von der Braake, dieser besonnene Mann, hatte all das verhindert.
Isenhart erreichte nach Henning das Gewölbe. Seine Nase war allerlei Ausdünstungen gewohnt, doch der Geruch, der aus dem Dunkel in seine Nase kroch, war anders. Er roch Blut und Eiter, er roch Fäulnis und Kot und Urin. Und über alledem lag wie ein alles durchdringender Nebel noch etwas. Der Tod.
In einem Nebenraum warf eine Talgkerze warmes Licht an die Wände und erhellte indirekt auch jene Kammer, in die Henning trat. Isenhart blieb ihm dicht auf den Fersen, weil sich seine Augen noch nicht genügend an die Dunkelheit gewöhnt hatten.
Von irgendwo hörte Isenhart ein Husten, dann ein Stöhnen. Dazu gesellte sich ein so erschütternder Schmerzensschrei, dass er animalischen Ursprungs sein musste. Henning ging vor ihm in die Hocke. Und nun, im Dämmerlicht, nahm Günther von der Braake langsam Gestalt vor ihm an. Henning tauchte einen Stofffetzen in den Holzeimer mit Wasser und wischte dem Sterbenden damit über die Stirn.
Günther lag mit Schweiß bedeckt und nackt unter einer Decke, die einen Teil seiner eingefallenen Brust enthüllte. Die Nase des Mannes hob sich spitz aus dem Gesicht mit dem weit geöffneten Mund, durch den der Medicus schnell und stoßweise atmete, jedes Mal von einem kehligen Rasseln begleitet. Die Augen aufgerissen, aber nichts Bestimmtes fixierend rollte Günther in langsamen, schleppenden Bewegung den Kopf hin und her.
»Günther«, sprach Isenhart ihn an, während er neben Henning in die Hocke ging.
Von der Braake wälzte sein Haupt wieder von links nach rechts und zurück.
Henning warf Isenhart einen kurzen Seitenblick zu. »Er erkennt dich nicht«, flüsterte er und artikulierte damit das, was auch Isenhart hätte offensichtlich sein müssen. Der Mann befand sich im Todeskampf, mehr noch, es war der Anblick eines bereits erloschenen Geistes, eines Verstandes, der vor dem Unausweichlichen kapituliert hatte und es dem Körper überließ, der es nicht besser zu wissen schien und sich nach Kräften gegen das Unvermeidliche stemmte.
»Isenhart ist hier bei mir«, sagte Henning sanft, doch Günther von der Braake reagierte nicht mehr auf Ansprache.
»Simon, eine Fackel – schnell.«
Simon von Hainfeld, der hinter ihnen gestanden hatte, verschwand ohne ein weiteres Wort.
Erst jetzt nahm Isenhart die vier Hanfseile wahr, die von den vier Eckpunkten des Lagers an die Decke des Gewölbes verliefen, wo sie mit horizontal in die Wand eingelassenen, schweren Weidenruten verbunden waren. Auf diese Weise »schwebte« das Lager, auf dem der Körper des Sterbenden dem Schnitter immer noch die Stirn bot, über dem Boden. Aber wozu diese Apparatur? Warum hatte man das Lager nicht einfach auf dem Grund des Gewölbes ausgebreitet?
Unauffällig wollte Isenhart einen Blick unter das Lager erhaschen, als Simon von Hainfeld mit der Fackel zurückkehrte und sie über die Bettstatt hielt. Der Lichtschein des Feuers wurde vom Boden reflektiert, der gar keiner war. Es handelte sich vielmehr um ein rechteckiges Becken, das mit Wasser gefüllt war. Und einen Fuß über der Wasseroberfläche hing das Lager.
Das Licht der Fackel ließ weitere Lager erkennen, große und kleine, auch sie waren über Hanfseile an Weidenruten montiert, unter jedem von ihnen glitzerte das Wasser. Auf den kleinen Schlafstellen ruhten Tiere, vornehmlich ein paar Hunde, aber auch eine Ziege. Mit Seilen fixiert. Die größeren Schlafstätten wurden von Menschen eingenommen. Neben den schwebenden Lagern stand Geschirr, manchmal Schalen mit Essensresten, und nun, da das Licht kam, nahmen die Ratten Reißaus.
»Ich habe so etwas schon einmal gesehen«, wisperte Isenhart, der sich zu erinnern versuchte, wo genau das gewesen war.
»Es ist ein Experiment«, sagte Simon von Hainfeld.
»Schweigt«, befahl Henning ihnen sanft. Tatsächlich geriet Günthers Atmen nun aus dem Takt, verlor es die klare, direkte Linie, wurde zu einem lautlichen Schlingern und dann zu einem erstickten Keuchen. Man musste keinen Menschen sterben gesehen haben, um zu erkennen, dass der Moment gekommen war.
Henning
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