Isenhart
Erden bot und mit ihm um jene Seelen rang, die er sich mal hier, mal dort unter den Nagel riss, meist waren es junge Frauen in der Blüte ihrer Jugend.
»Und er zog durch ganz Galiläa, predigte in den Synagogen und trieb die Dämonen aus«, rezitierte Henning, seine Stimme war kraftlos.
»Markusevangelium, Kapitel 1, Vers 21-28«, erkannte Isenhart, die Rohrstockhiebe hatten ihm jede einzelne Zeile so intensiv verinnerlicht, dass sie ein ganzes Leben lang ohne Verzug abrufbar waren.
Henning von der Braake nickte: »Jesus Christus war der erste Exorzist.« Er seufzte.
Isenhart legte dem Freund die Hand auf den Unterarm, und ihre Blicke fanden sich. Es war, als hätte es Hennings schwere Verletzungen nie gegeben, als hätte Isenhart die anderthalbjährige Reise zu den Wurzeln seiner Existenz nicht angetreten, die alte Vertrautheit umschloss sie beide wie eine Mutter, die den heimgekehrten Sohn an sich drückte. »Und ist das Öffnen der Schädeldecke immer noch dein Wille?«
»Wenn du mir hilfst, habe ich keine Angst«, antwortete Henning.
Isenhart hatte noch nie operiert, seine Ausflüge in die Wundmedizin beschränkten sich auf das Stillen von Blutungen und das Nähen von Fleischwunden. Die Haut über dem Kopf zu öffnen, dann den Schädel aufzusägen und im Inneren einen Blick auf ein Organ zu werfen, das man noch nie zuvor gesehen hatte, im Anschluss eine Diagnose zu stellen und dieses Organ dann zu behandeln, zu beschneiden, zu kneten, mit Ölen einzureiben, mit Heilkräutern zu bestreuen oder mit dem scharfen Messer zu teilen – was auch immer zu Gebote stand –, das erschien ihm als enormes Wagnis.
Einerseits. Jede ihrer Maßnahmen wäre lebensgefährlich, aber was schreckte diese Erkenntnis einen Patienten, den man ansonsten bei lebendigem Leibe zu verbrennen gedachte?
Der Mensch klammert sich ans Leben. Immerzu und jederzeit.
Walther hatte sie das gelehrt, damals auf der Burg Laurin.
»Vater Hieronymus sagt, unsere Leiber sind fleischliche Gefängnisse, und die Seele und Gott sind froh, wenn wir sie abstreifen«, entgegnete ihm Konrad damals.
»Soso«, merkte Walther mit gutmütigem Lächeln an, in dem auchstets die Wehmut durchschien, nicht einer von ihnen zu sein und mit ihnen allen erdenklichen Unsinn anstellen zu dürfen, »soso. Vater Hieronymus. Aber er weilt schon noch unter uns, nicht wahr?«
Die beiden Jungs stutzten.
»Ich frage mich nur«, fügte ihr Lehrer hinzu, »weshalb jene, denen das Himmelreich ist, sich ohne Not weiter den Unpässlichkeiten ihres irdischen Daseins aussetzen. Das ist ein höchst interessanter Gedanke – er stammt nicht von mir. Er stammt von einem Mann, der … der aus dem Norden stammt. Aus Friedberg.«
Sie beide, Isenhart und Konrad, standen zu jener Zeit in der Blüte ihrer Jugend. Gesund und strotzend vor Kraft, furchtlos, neugierig und wohlgemut. Doch entging Isenhart nicht, welch Mühsal das Leben auch für sie bereithielt. Nur so war zu verstehen, wie ihre allernächste Umgebung, Sigimund und Mechthild von Laurin, Chlodio und Ida, Giselbert und Alexander von Westheim, mit dem Tod umging. Sie alle sehnten ihn herbei. Nicht sofort und am besten mit so wenig Schmerzen verbunden wie irgend möglich, doch letztlich war der Schnitter in erster Linie ein Erlöser, war nicht die Hölle das, was es zu fürchten galt, sondern das irdische Dasein war jene Hölle, die aus Hunger, Schmerz und Elend bestand, aus Krankheit, Siechtum, Niedertracht und Habgier. Kein Ort, den man bei klarem Verstand ernstlich zum Verweilen auserkoren hätte, wäre man nicht ohne eigenes Zutun mitten in ihn hineingeboren worden. Und daher ein Ort, dem man lieber früher als später zu entrinnen gedachte. Der nur Gehalt haben konnte, wenn der Sinn des Lebens in einer göttlichen Prüfung bestand, die dazu angetan war, die Verweildauer der Seelen im Fegefeuer, in dem sie ihre gründliche Reinigung erfuhren, so kurz wie möglich zu halten.
Die Angst vor dem Fegefeuer war allerdings allgegenwärtig. Ein jeder hatte sich schon einmal verbrannt und konnte erahnen, was es wohl bedeuten mochte, wenn die hüllen- und schutzlose Seele dem Fegefeuer ausgesetzt war. Konrad wie Isenhart hatten sich einen See vorgestellt, der lichterloh brannte, und mittendrin wanden sich unter unermesslichen Qualen ihre Seelen.
Was Isenharts Gedanken wieder zurückführte, zurück nach Weinsberg, zurück zu Henning. Denn wenn jene Geister im Kopfe Agnes’ von Weinsberg einem Exorzismus standhielten, so war
Weitere Kostenlose Bücher