Isenhart
antwortete Henning.
Isenhart durchliefen feierliche Schauer. Er sah in die Runde. »Was machen die Leute hier?«
»Sie sterben, Isenhart. Sie sind todkrank. Wir versorgen sie, sprechen ein beruhigendes Wort und sind bei ihnen in der letzten Stunde. Und im Gegenzug messen wir. Messen und halten Ausschau.«
Was Isenhart an das Lager in der Puente erinnerte, in dem die Medici ihre neuesten Errungenschaften an den Todkranken erprobten. »Hast du eine Seele gesehen?«, wollte er wissen, sein Herz schlug ihm dabei bis zum Hals.
Der Sohn des Medicus deutete ein Kopfschütteln an: »Wir haben den Sterbenden Wasser in die Münder gefüllt, aber der Pegel blieb konstant. Nichts, was durch das Wasser aufstieg. Eigentlich gar keine Bewegung. Wir haben es auch mit Rauch versucht, ohne Erfolg. Aber möglicherweise ist die Seele nicht nur unsichtbar, vielleicht hat sie gar keine Gestalt, Isenhart. Aber eines ist sicher: Sie wiegt etwa fünfzig Grän.«
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33.
ünfzig Grän.
Das Gewicht der Seele.
Wie von zu viel Met oder gepanschtem Wein beeinträchtigt, bahnte Isenhart sich unsicheren Schrittes den Weg über den Burghof zum Tor, durch das immer noch Menschen strömten, um dem Burgherrn den Zehnten zu entrichten.
»Gott zum Gruß, junger Herr«, hörte er eine dünne Stimme, nach der er sich umwandte. Die Gedanken um das, was Günther von der Braake angerichtet hatte, um das Experiment und um den Faden, der sich aus dem Wasserbecken gehoben hatte, beherrschten seine Sinne. Isenhart wollte sich nicht ablenken lassen, doch das Geschöpf vor ihm ließ das nicht zu.
Es handelte sich um eine junge Dame – ihre Kleider zeugten von betuchter Herkunft – von vielleicht dreizehn oder vierzehn Jahren. Blond und mit Sommersprossen, sie erinnerte ihn an Anna.
»Ich bin Agnes von Weinsberg.«
»Isenhart. Von Laurin.«
Agnes von Weinsberg nickte ihm mit einem Lächeln zu. »Kleiner Eselficker«, fügte sie hinzu. Dabei bewegten ihre Lippen sich kaum, kurz überkam Isenhart der Zweifel, ob sie überhaupt etwas zu ihm gesagt hatte. Oder ob man Ficker großzügiger auslegen konnte, zum Beispiel als Flicker, wobei Eselflicker nicht unbedingt Sinn ergab. Oder ob sie ihn mit Henrick verwechselte.
»Wie belieben?«
»Nichts«, sagte Agnes von Weinsberg, »das ist nur … nur ein Spiel.« Ihre Lider flatterten kurz, ihr Lächeln geriet außer Form. Mit einer Urgewalt wurden ihr der Kopf, die linke Schulter und der linke Arm zurückgerissen, der Bewegung wohnte eine Heftigkeit inne, die – so zumindest hatte es den Anschein – nicht irdischer Natur sein konnte.
»Fegel mich, geile Sau!«
Das Gesicht Agnes von Weinsbergs blieb dabei merkwürdig ruhig, aber ihr Mund warf kleine Blasen aus Speichel. Sie lachte hysterisch auf. Zwei Männer stießen aus der Menge der Wartenden hervor und packten die junge Frau, um sie mitzunehmen.
»Wartet«, befahl Isenhart, aber es war, als hätte er das Wort an die Burgmauer gerichtet.
»Sie gehören zu Engelhard Fürst von Weinsberg.«
Isenhart fuhr herum. Henning stand hinter ihm. »Agnes von Weinsberg ist krank«, fuhr der Freund fort, »ihretwegen sind wir hierher gekommen. Um sie zu heilen.«
Er seufzte und schien das, was er unten in dem Gewölbe erlebt hatte, abzustreifen. Hennings Augen fixierten einen Punkt, der weit in der Ferne lag.
Isenhart sah zu dem Mädchen, das von den beiden Burschen weggeschafft wurde. »Was ist mit ihr?«
»Die Leute sagen, sie sei besessen«, sagte Henning und riss sich von dem weit entfernten Punkt los, »die Leute sagen, Geister hätten sich in ihren Kopf eingenistet und trieben boshaften Schabernack mit ihr. Die Leute denken, sie muss brennen.«
»Du glaubst, sie ist krank«, sagte Isenhart.
Henning deutete ein Achselzucken an, er streckte sich, reckte den Kopf und ließ ihn langsam rotieren. Isenhart hörte das Knacken der Halswirbel. »Günther glaubte das, und ich«, er zögerte, »ja, ich auch. Oder anders gesagt: Wir wollten herausfinden, ob sie besessen ist.«
»Wie?«, fragte Isenhart, »ihr in den Kopf schauen?«
»Ja, genau das. Ihr die Schädeldecke öffnen und nach den Geistern Ausschau halten. Ein Exorzist hat sich schon an ihr versucht. Vergebens.«
Hennings letztes Wort war frei von Überraschung. Ohne Zweifel stand er dem Exorzismus skeptisch gegenüber, wie Isenhart feststellte. Er selbst hatte keinem Exorzismus beigewohnt und war auch nie einem Exemplar dieser besonderen Schar Gottes begegnet, die dem Satan die Stirn auf
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