Isenhart
esnur folgerichtig, die Heimgesuchte dem Feuer zu überantworten, auf dass die Geister nicht in die Köpfe der anderen sprangen, die sie tagtäglich umgaben.
Das zumindest würde die Kirche erwägen, vermutlich, so überlegte Isenhart, war es lediglich der Stellung ihres Vaters zu verdanken, seiner adeligen Herkunft und seinem Einfluss bei den Staufern, dass man sie noch nicht der reinigenden Kraft der Flammen ausgesetzt hatte.
Vor die Wahl gestellt, zu brennen oder den Schädel geöffnet zu bekommen, war der Tod in beiden Fällen so gut wie sicher. Im zweiten aber eben nicht ganz. Auch Agnes und ihr Vater klammerten sich also an die einzige Hoffnung, die der Fürstentochter noch blieb. Deshalb hatten sie dem waghalsigen Eingriff zugestimmt.
»Der Eingriff ist riskant«, stellte Isenhart fest.
»Ja, ziemlich«, antwortete Henning matt. Isenhart spürte, dass der Freund in Gedanken woanders war, bei seinem soeben verschiedenen Vater vermutlich. Aber er irrte.
»Fünfzig Grän«, nahm Henning von der Braake den Austausch der Gedanken wieder auf.
»Es ist eine Sensation«, betonte Isenhart mit einem leichten Beben in der Stimme. Und meinte in Hennings Augen jenes Aufblitzen gesehen zu haben, mit dem er auf die Anerkennung unter seinesgleichen reagierte.
»Ja«, schoss es über Hennings Lippen, mit einem Schlag kehrte alles Leben in ihn zurück, all jene Energie, die bisher noch jeden Widerstand in die Knie gezwungen hatte. Er vibrierte beinahe vor Leben. Das war der Henning von der Braake, den Isenhart vermisst hatte.
»Ja«, fuhr Henning fort, »aber wir können nicht davon berichten. Wir haben«, er unterbrach sich selbst mit einem Lachen, das sich nicht aus Fröhlichkeit Bahn brach, »wir haben etwas in den Händen, was unsere Auffassung der Welt und der Dinge, die sie zusammenhält, auf ein neues Fundament stellen könnte. Bloß wird das den Alleinanspruch des Klerus auf Gott gefährden.«
Er hob seine Hand und hielt Isenhart den Fingerstumpf entgegen, an dem sich das Fingerglied befunden hatte, das Henning sich hatte abhacken lassen, um seiner Treue zu Isenhart und ihrem Traumvom Fliegen Ausdruck zu verleihen. Ohne Not, nur auf den Befehl seines Gewissens und seiner Überzeugung hin. »Und deshalb wird es dieses Mal nicht bei einem Stück Finger bleiben, Isenhart. Dieses Mal werden uns vier Pferde unter dem Geifer des Pöbels in vier Stücke reißen.« Henning blickte ihm tief in die Augen.
»Kann man deshalb der Welt die Wahrheit verweigern?«, fragte Isenhart und hielt den Blick.
Dem jungen von der Braake zuckte das linke Augenlid vor Überraschung. Ja, das war es. Hier endlich galt es, dachte Henning von der Braake, hier fügte sich alles wieder zusammen.
»Aber wir können die Forschungen immerhin im Verborgenen fortführen«, schränkte er ein, »wenn man uns tötet, tritt die Wissenschaft auf der Stelle.«
»Dann müssen andere kommen und den Gedanken aufnehmen«, hielt Isenhart ihm entgegen, »ist denn nicht viel entscheidender als das, was auf die Wahrheit folgt, die Wahrheit selbst?«
»Die Wahrheit ist«, erwiderte Henning, »dass die Seele fünfzig Grän wiegt.«
»Also existiert sie«, leitete Isenhart eine Kausalkette ein.
»Also existiert sie«, bestätigte Henning.
»Also beweist sie Gott.«
»Ja?«
»Nein?«
»Fünfzig Grän können für ihn oder gegen ihn sprechen«, erwiderte Henning und senkte dabei instinktiv seine Stimme.
»Auf jeden Fall hast du das getan, was dem Erzengel Michael zufällt: das Wiegen der Seelen«, stellte Isenhart nachdenklich fest. Henning hob die Augen. Der Himmel teilte sich nicht, kein Blitz fuhr auf sie hernieder, kein übermenschliches Wesen donnerte hinab und zerschmetterte sie. Es geschah überhaupt nichts.
»Warum können sie ein Beweis gegen die Existenz des Allmächtigen sein?«, fragte Isenhart.
»Das ist eine Frage der Ursache«, begann Henning.
Eine Frage der Ursache, überlegte Isenhart. Wenn es eine Frage der Ursache war, ob die Existenz der Seele eine zentrale Gegenthese zur Existenz Gottes darstellte, dann verdichtete die Logik alle möglichen Antworten auf eine: Die Seele ist nicht Gottes Werk.
»Die Ursache nämlich …«, fuhr Henning fort, um sofort von Isenhart unterbrochen zu werden, »die Seele braucht keinen Gott, um zu sein.«
Isenharts Antwort verzögerte sich nur kurz: »So ist es. Sie existiert und kann damit ein Beweis für den Schöpfer sein. Oder sie existiert ohne Schöpfer. Sicher ist nur: Es gibt sie.«
Er ging
Weitere Kostenlose Bücher