Isenhart
Durchwoben von der Tinktur schimmerten seine Haare nun Rot. Ein dunkles Rot, fast kupferfarben. So rot wie jene Haare, die Lilith, die Wirtstochter, ihrem Mörder im Todeskampf von der Kopfhaut gerissen hatte.
Dieses war der Zweck der Tinktur: die Färbung der Haare. Der Mörder hatte sich getarnt, er hatte vorgegeben, rote Haare zu haben. Damit jene Trottel, zu denen Isenhart sich nun zählen durfte, ihm auf den Leim gingen und nach rothaarigen Männern Ausschau hielten. Ja, ganze Städte wie Spira nach ihnen durchkämmen ließen. Aber der Mörder hatte keine roten Haare. Und Michael von Bremen war daher entweder ein komplett Ahnungsloser oder ein Eingeweihter gewesen, den man am Ende hintergangen und gemeuchelt hatte.
Es gibt nichts Zwingenderes als die Logik.
Und diese erteilte Isenhart klare Auskunft: Es hatte keinen Sinn, seine Haare rot zu färben, wenn man rote Haare besaß. Damit schied Michael von Bremen als Täter aus. Was zur Folge hatte, dass die Haare, die er in der verkrampften, blassen Hand der Wirtstochter gefunden hatte, nicht diejenigen von Bremens waren.
Kaum hatte Isenhart diesen Gedanken gefasst, fuhr seine linkeHand bereits unter sein Hemd und zog den kleinen Beutel hervor, in dem er die Haare und auch die Pergamente mitführte, die sie in Tarup entdeckt hatten. Nebst der verschlüsselten Nachricht seines Vaters. Er entnahm die Haare und betrachtete sie im Sonnenlicht, dabei legte Isenhart ein wenig den Kopf schief, als würden sie ihm unter dieser minimal veränderten Perspektive ihre wahre Herkunft verraten. Er schaute auf und entdeckte einen Tonkrug, der – durch das Lager ein wenig verdeckt – in Reichweite des Gefäßes für die Notdurft stand.
Er federte hoch, griff nach dem Krug und schaute hinein – aus dem Behältnis starrte ihn sein verschwommenes Spiegelbild an. Mit zwei zügigen Schritten, doch ein Ohr immer auf ein mögliches Geräusch von draußen gerichtet, um nicht überrascht zu werden, kehrte er zu dem Ledersack zurück, in dem Henning und sein Vater ihr Hab und Gut aufbewahrt hatten. Er setzte den Krug ab, nahm im Schneidersitz daneben Platz und hielt das Haarbüschel, das ihn bis nach Toledo und zurück begleitet hatte, über den Rand. Ein letztes Zögern noch. Mit etwas Glück würde er gleich mehr über den Seelensammler wissen.
Isenhart tauchte das Büschel in das Wasser, bewegte es mit sanften Bewegungen hin und her und hob es aus dem Krug heraus. Feine, rötliche Tropfen liefen an den Haaren hinab, einer Perlenschnur gleich, auf der jede neue Perle desto farbloser wurde, je mehr das Wasser die Färbung aus den Haaren wusch.
Isenhart kniff die Augen zusammen. Unter der roten Struktur der Haare schimmerte eine dunklere hindurch und trat langsam als Schwarz hervor. Der Mörder trug schwarze Haare. Das war seine wahre Erscheinung.
Die Haare Günther von der Braakes waren grau gewesen, fast weiß. Auch Sydal von Friedberg dürfte es kaum gelungen sein, sich dem Altern zu verweigern. Also hatte sein Vater tatsächlich Wort gehalten, stellte Isenhart fest. Er war nicht ins Heilige Römische Reich zurückgekehrt, um seine Taten fortzuführen. Und da er erst vor drei Jahren eine Nachricht an seinen Sohn in der Puente hinterlassen hatte, war auch jede Theorie über einen Wiedergänger obsolet, der bei den Morden seine Hände im Spiel gehabt haben sollte.
Isenhart hielt seine Gedanken von dem Offensichtlichen fern, so gut es eben ging, denn das Offensichtliche in dieser Angelegenheit barg auch ein Wider. Ein Wider von höchst persönlicher Natur. Die größte geistige Verstümmelung, die er sich vorzustellen in der Lage war, wenn er es wagte, die Augen endlich ins Licht zu richten.
Du suchst die Wahrheit, seit du denken kannst, ich weiß – ich suche sie auch schon mein ganzes Leben lang. Aber wir neigen dazu, sie immer dort zu suchen, wo es für uns nicht mit Unannehmlichkeiten verbunden ist, sie zu finden.
Walther hatte diese Worte an ihn gerichtet, bevor er nach Toledo aufgebrochen war. Er musste es geahnt haben, nahm Isenhart nun an, geahnt haben, aus eigener Erfahrung vermutlich, dass sein Schüler irgendwann diesen schmerzlichen Punkt kreuzen würde. Unwillkürlich deutete Isenhart ein Nicken an – er sah sich nun mit mehr als nur einer Unannehmlichkeit konfrontiert. Wenn seine These zutraf – und er war sich keinesfalls sicher, ob er das wirklich wissen wollte –, musste er seine Bahnen wieder alleine ziehen.
Und was ist dir die Wahrheit jetzt noch
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