Isenhart
die Reinigung der Seele im Fegefeuer nicht allzu ausgedehnt geraten zu lassen, doch machte sich ein Unbehagen in Isenhart breit. Wollte Henning denn nicht hören, warum sein Vater das getan hatte? Ob Günther von der Braake der Seelensammler gewesen war, der sich ihnen ein ums andere Mal entwunden hatte, sie auf falsche Fährten gelockt und munter weitergemordet hatte?
Es gab nur einen Grund, weshalb Henning es nicht hören wollte, nicht hören musste, dachte Isenhart, und der lautete: Er wusste es schon.
Unter dem Vorwand, Henning von der Braake ein wichtiges Utensil für den Fortgang seiner Forschung besorgen zu müssen, erfuhr Isenhart, in welchen Kammern er und Simon von Hainfeld auf der Burg untergebracht waren.
Eilig huschte er hinauf, nahm zwei Stufen der steinernen Wendeltreppe, die hoch zu den Turmzimmern führte, auf einmal, stoppte plötzlich ab und lauschte. Ein Geräusch war an sein Ohr gedrungen. War Henning bereits wieder auf dem Weg zurück zu seiner Kammer?
Etwas zu seiner Linken flatterte, erschrak ihn, aber dann sah er eine junge Schwalbe, die sich in die Tiefe stürzte. Isenhart atmete einmal durch, sein Herzschlag beruhigte sich allmählich wieder.
Er war nicht hier, um etwas nachzuweisen, rief er sich ins Gedächtnis. Er war hier, weil er Gewissheit haben musste und Henning von dem schrecklichen Verdacht, der eben erst in ihm gereift war, reinzuwaschen. Er wusste nicht einmal exakt, wonach er in der Kammer Ausschau halten sollte.
Isenhart lief die restlichen Stufen hinauf. Die erste Kammer links, hatte die Frau gesagt, auf die er unten im Burghof eingeredet hatte. Die erste Kammer links, die mit einem Türeisen versehen war, an dem er zog – vergeblich.
Das leise, metallische Rasseln zu seinen Füßen verriet ihm den Grund. Eine dünne Kette mit alten, rostigen Gliedern sicherte den Zugang. Isenhart nahm die gegenüberliegende Tür ins Visier, was seine Vermutung umgehend bestätigte – die Kammer auf der anderen Seite wies keine Kette auf. Die Räumlichkeiten der Gäste auf Burg Weinsberg wurden also nicht prinzipiell geschützt.
Er zögerte für einen kurzen Augenblick, dann warf er sich mit aller Kraft gegen das Holz und zog sich eine Prellung an der Schulter zu. Die Kette riss aus ihrer Verankerung, die Tür flog auf und krachte gegen die Zimmerwand. Staub und Schmutz wirbelten auf und tanzten durch den feinen Lichtstrahl, den die Sommersonne durch den schmalen Schlitz sandte, der sich zwischen den hölzernen Fensterläden befand.
Ein Lager aus Stroh, darauf grobe Decken, grau. Von ihnen ging der Geruch von Pferden oder Maultieren aus, der Isenhart sofort in die Nase drang. Neben dem Lager stand der Nachttopf.
Spinnen hatten ihre Netze gespannt und blieben reglos, als Isenhart die Läden nach außen stieß, um dem Tageslicht Einlass zu gewähren. Neben dem Fenster befand sich eine Holzkiste, die an der Vorder- und Rückseite mit Metall verziert war. In deren Innern stieß er lediglich auf eine weitere Decke und zwei Kerzenstummel aus Talg. Bis auf einen großen, ledernen Beutel war die Kammer ansonsten leer.
Isenhart kniete sich neben den Ledersack und griff hinein. Er zog ein kleines, zylindrisches Tongefäß hervor, dessen Öffnung mit einem Stück Kork verschlossen war.
Er begutachtete es, wendete es zwischen seinen Fingern und zog dann das Korkstück heraus. Alles, was er ausmachen konnte, war eine dunkle Flüssigkeit, die sanft hin- und herschwappte, einenkleinen, fernen Lichtreflex auf der Oberfläche tragend. Er hob die Öffnung an seine Nase. Ein scharfer Geruch schoss Isenhart die Nasenlöcher hinauf. Ein Aroma, das er noch nie zuvor gerochen hatte – ein Gemisch also, um etwas anderes konnte es sich kaum handeln. Eine Tinktur wofür?
Isenhart neigte das Gefäß und träufelte ein wenig davon über die Finger seiner linken Hand. Die Tropfen waren rot, sie schimmerten im Sonnenlicht. Ihren Sinn verrieten sie dabei nicht. Und doch hinterließen sie Schlieren auf seinen Fingern, hellrote Schlieren. Rot. Ein helles Rot.
Mit einem Mal führte die Farbe zu einer Assoziation. Isenhart griff sich an den Kopf, hinter die Ohrmuschel, dort, wo er nicht sorgsam genug barbiert worden war, dort, wo sich noch einige seiner hellbraunen Haare fanden, deren Länge diejenige eines Fingerglieds überragten – und riss sie aus.
Sorgfältig, aber eilig führte er sie in das kleine Gefäß, tränkte sie in der Flüssigkeit, zog sie wieder hinaus und hielt sie ins Sonnenlicht.
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