Isenhart
»dann würde ich sie an einen Ort begleiten, an dem die … Kirchenoberen keinen Zugriff auf sie haben.«
Die Verblüffung, die sich im Gesicht Engelhardts II . widerspiegelte, war für Isenhart keine Überraschung, mehr noch, er ahnte, welche Frage der Fürst nun an ihn richten würde. »Und wo könnte das wohl sein?«
Engelhardts Ratlosigkeit war echt. Natürlich, denn das gesamte Abendland war christlich und dem Übergang zum Morgenland stand die oströmische Kirche vor. Alles, was danach kam, wurde von Allah und seinen Anhängern beherrscht.
»Ich weiß es nicht«, bekannte Isenhart daher, »möglicherweise müsste man dazu der Seidenstraße folgen.«
Fürst Engelhardt schien auch schon über diese Option gegrübelt zu haben, denn er nickte, als habe Isenhart ihn mit seinen Worten soeben in seiner Haltung bekräftigt.
»Die Seidenstraße«, murmelte er und wandte sich dann ab, seineSporen klirrten für vier Schritte, bevor er verharrte und sich noch einmal zu Isenhart umwandte, so zügig, dass ihm das schulterlange Haar um den dünnen, faltigen Nacken schwang. »Wie lange wollt Ihr Euer mildtätiges Tun fortsetzen?«, fragte er.
»Bis es vollbracht ist«, antwortete Isenhart ruhig.
Eigentlich gingen ihn diejenigen, die Henning von der Braake hier in den Gewölben zum Sterben versammelt hatte, nichts an. Doch wenn er all den Groll, den er auf den früheren Freund empfand – in einigen Augenblicken durchfuhr ihn auch Hass –, wenn er all das beiseiteschob, blieb der Umstand, dass Henning Menschen wie Tieren mit Speise, Trank und Zuspruch das Sterben erleichtert hatte. Um sich seinen Zugewinn daran zu sichern – das Wiegen der Seele –, gewiss. Doch unterm Strich war das gegenseitige Nehmen und Geben für beide von Vorteil.
Weder für Hennings Forschung noch für den Versuchsaufbau, den sein Vater erdacht hatte, trug Isenhart Verantwortung. Und doch empfand er eine Verpflichtung, sich um die Sterbenden zu kümmern. Sicher galt sein Blick im Augenblick des Loslassens auch dem Faden, der sich wieder und wieder aus dem Wasserbecken erhob, diese Neugierde mochte er nicht vor sich leugnen, aber sie war nicht der Grund. Vielmehr gebot ihm einfach sein Mitgefühl, den Hilfebedürftigen nicht einfach den Rücken zuzuwenden.
Also blieb er noch neun Tage Gast in Weinsberg. Zuletzt starb ein Hund mit hellbraunem Fell, ein scheuer Geselle, dessen vier Pfoten allesamt vom Beige ins Weiß wechselten.
Der namenlose Vierbeiner, neben dem Isenhart im Gewölbe der Burg Weinsberg ausharrte, jenes schwache Tier, das ihm ebenso demütig wie dankbar die Hand leckte, wand sich unter Schmerzen, bevor es mit einem Mal ganz still wurde. Bis keine Vibration mehr den kleinen Körper durchlief, bis alles ganz ruhig war, der Blick auf Isenhart gerichtet, aus Augen, die nach und nach jeden Glanz verloren.
Isenhart strich dem verblichenen Hund noch einige Augenblicke durch das struppige Haar, bevor er den Kadaver schulterte und ihn dem Abdecker übergab, der ihm das Fell über die Ohren ziehen würde.
Jetzt war es vollbracht.
Am zehnten Tag verließ Isenhart die Burg Weinsberg und machte sich auf den Weg zum Kloster Sunnisheim, wo Sophia ihr Leben als Nonne fristete.
Milde, Güte und Nachsicht mit den Sterbenden war nur die halbe Wahrheit für jene Tage gewesen, die er in dem Gewölbe zugebracht hatte. Die andere Hälfte der Wahrheit bestand in seinem Versagen und seinem Verlust. Bestand darin, dass die letzten Jahre noch einmal wie in einem Fieberwahn an ihm vorbeizogen und Isenhart sich außerstande fand, am normalen Leben teilzunehmen.
Henning und er hatten sich verbündet, um Wissen in sich aufzunehmen und die Grenzen, ganz gleich, in welcher Disziplin sie sie vorfanden, infrage zu stellen. Knarrende Türen aufzustoßen und das schonungslose, grelle Licht nicht zu fürchten, das unweigerlich eintreten würde. Sie ergänzten sich, stachelten sich gegenseitig an, übertrafen einander in Schlagfertigkeit, Logik und geistiger Präzision, sie verblüfften sich gegenseitig, und ihr Lohn und ihre Triebfedern waren Anerkennung und Erkenntnis.
Erst jetzt, da er all das endgültig verloren hatte, begriff Isenhart, was für ein reicher Mann er gewesen war. Zu spät, denn natürlich war dieser Reichtum unwiederbringlich, und selbst wenn er wiederherstellbar gewesen wäre, hätte er den Zauber der Unschuld eingebüßt.
Man kann die Umstände zwar wieder herbeiführen, aber niemals wieder die einzigartige Magie des Augenblicks,
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