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Isenhart

Isenhart

Titel: Isenhart Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Holger Karsten Schmidt
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einzigen, das tatsächlich gewiss war? Waren sie nicht alle dem einen Geschlecht entsprungen, Adam und Eva? Waren sie deswegen nicht folgerichtig allesamt Brüder und Schwestern? Und war es daher nicht von erschütternder Einfalt, sich gegenseitig totzuprügeln?
    »Ich hab ihn zuerst gefunden!«, rief ein Mädchen, das einen Kupferring in der Hand hielt. Sie hatte ihn vom erstarrten Finger eines Gefallenen gezerrt. Die Gier in ihren Augen ließ die Ebenheit ihres Gesichts schroff erscheinen, jeglicher Liebreiz war dahin.
    Ein Junge trat ihr zwischen die Beine und schlug ihr im Anschluss auf die Nase. Zwei-, dreimal, und als sie zu Boden stürzte, trat er ihr noch einmal gegen den Kopf und stahl ihr den Kupferring.
    Das Mädchen weinte nicht, kein Schrei entwand sich ihrem Mund. Es rappelte sich nur auf und lief davon.
    Isenhart hockte sich neben einen Leichnam und nahm ihm den Dolch ab. Auf seinem Rücken trug er nach wie vor Walthers Armbrust. Es erschien ihm fast wie ein Wunder, dass man sie ihm nicht vom leblosen Körper gestreift hatte. Vermutlich, dachte er, weil viele sie wegen ihrer nach vorne gerichteten Bogenspitzen für eine Fehlkonstruktion gehalten hatten.
    Er erhob sich und schlug eine südwestliche Richtung ein. Obwohl es regnete, glitzerten ein paar Sterne schwach am Firmament. Und mithilfe Andrea Centurións und des Polarsterns bestimmte Isenhart die Richtung, die er zu nehmen hatte.
    Nach einer halben Stunde stieß er auf den ersten Wachtposten,den Joseph von Vöhingen für die Nacht abgestellt hatte. Isenhart trug nun einen zweiten Dolch bei sich, den er aus dem Hals eines toten Maultiers gezogen hatte. Der Regen dämpfte seine Schritte und brachte das Laub in den Bäumen über ihm zum Prasseln. Unbemerkt passierte er den Wachmann und auch die zweite Linie von Posten, die in einer engeren Formation ihrer Aufgabe nachgingen und in die Nacht starrten.
    Lachen drang an sein Ohr, voll und kehlig. Und durch die Äste und Sträucher schimmerte das Licht von Fackeln. Isenhart duckte sich und warf einen Blick zurück. Eine Viertelmeile, so schätzte er, weiter hatte er sich nicht vom Schlachtfeld entfernt.
    Und genau von dort stolperte ihm eine Gestalt entgegen. Groß und hager. Die Gestalt stoppte und starrte ihn unschlüssig an. Isenhart gab seine geduckte Haltung auf und trat dem Mann entgegen, der noch gar kein richtiger war. Ein vielleicht vierzehnjähriger Junge mit nichts weiter als Lumpen am Leib. An den Füßen trug er zwei unterschiedliche Schuhe, wie Isenhart mit einem Seitenblick feststellte. Vermutlich hatte er sie den Toten von den kalten, starren Füßen geklaubt.
    Der Junge verharrte immer noch, er war unsicher.
    »Man nennt mich Richwin«, stellte Isenhart sich vor und trat näher. Der Junge trug zwei große Holzeimer, in denen Wasser schwappte.
    »Ich heiße Thilmann«, erwiderte der Junge.
    »Komm, reich mir einen Eimer, mein Wachdienst ist zu Ende«, sagte Isenhart und nahm Thilmann, ohne eine Antwort abzuwarten, einfach einen der beiden Eimer aus der Hand, der sich doch als schwerer erwies, als es zunächst den Anschein gehabt hatte. Zu schwer für seine verwundete Schulter.
    Isenhart wechselte den Holzeimer auf die linke Seite und marschierte los – dem Lachen entgegen. Wie von Isenhart erhofft, beeilte Thilmann sich, um an seiner Seite ins Lager zu treten. Mit seinen entschlossenen Schritten hatte Isenhart jeden Zweifel an seiner Zugehörigkeit zu den Leuten Joseph von Vöhingens aus dem Weg geräumt.
    Das Lager, das dieser hatte ausheben lassen, unterschied sich keinen Deut von dem, aus dem Isenhart aufgebrochen war. Allefünfzig Fuß loderte ein Feuer und qualmte gegen den Regen oder brannte im Schutz von eilig improvisierten Dächern aus Holz und Moos.
    Der Geruch von heißem Bret hing in der Luft. An die Stelle von Brei, Beeren, Kleie und Waldfrüchten trat das, was gewöhnlich den hohen Herren und den Festtagen vorbehalten blieb. Ziegen, Schweine und Rinder waren zwar kostbar, doch heute waren sie im Rausch des carpe diem, den einige Alphabeten nach Horaz beschworen, geschlachtet und gebraten worden. In einer Mischung aus Übermut und trunkener Freude, den Tag überlebt, dem Gemetzel mehr oder weniger unverletzt entgangen zu sein, und der allgegenwärtigen Erinnerung an die Vergänglichkeit, an die die Sterbenden und Siechenden gemahnten, nahmen sie das Vieh nicht mit nach Hause, was die Vernunft geboten hätte, sondern teilten es in der regnerischen Kälte der Nacht mit ihren

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