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Isenhart

Isenhart

Titel: Isenhart Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Holger Karsten Schmidt
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Unsterblichkeit zu Lebzeiten, deshalb versucht er, die Seelen in sich aufzunehmen?«
    Henning nickte.
    »Was für ein absurder Gedanke«, entfuhr es Isenhart, womit er gleichzeitig die Belustigung aus Hennings Gesicht wischte.
    »Absurd, ja? Wie alt schätzt du Wilbrand von Mulenbrunnen?«
    »Ich weiß nicht«, bekannte Isenhart. Doch noch während die Worte über seine Lippen glitten, verglich er im Geiste den Wilbrand von Mulenbrunnen des Jahres 1190, als er ihn zum ersten Mal begegnet war, mit jenem, der ihm vor wenigen Stunden gegenübergestanden hatte. Tatsächlich war der Abt gealtert. Er schien zwei, drei Jahre mehr auf dem Buckel zu haben. Aber die Zeit zwischen diesen beiden Treffen barg eine Spanne von mehr als einer Dekade. Elf Jahre, um genau zu sein.
    »Wie alt?«, hakte Henning nach.
    »Fünfzig«, antwortete Isenhart und wusste bereits beim Anblick von Hennings triumphierendem Lächeln, dass er sich geirrt haben musste.
    »Er ist achtundsechzig«, erwiderte Henning mit Zorn in der Stimme, » achtundsechzig. Hast du gesehen, wie er sich bewegt?«
    Von der Braake musste es nicht näher ausführen, Isenhart begriff auch so, worauf er abzielte.
    »Auch das«, entgegnete Isenhart, »ist der Vielfalt geschuldet. Dem einen bleibt das Herz nach dreißig Jahren stehen, dem anderen nach achtzig. Erinnere dich daran, dass Barbarossa in demselben Alter, mit achtundsechzig, in den Kreuzzug gegen Saladin gezogen ist. Was soll das sein außer der Gunst der Vielfalt? Hat Kaiser Friedrich auch Seelen geatmet? Oder wie hat er sich eine solche Rüstigkeit erhalten?«
    Der Glanz des Triumphes schwand aus Hennings Blick. Isenhart hatte mit einem Vergleich seine zwingende Herführung zu einer möglichen degradiert. Damit war sie nur mehr eine von vielen.
    Isenhart hob das Schwert etwas an, sodass es den Kontakt zu Hennings Haut verlor. Bitter wie Galle kroch ihm der Hass den Körper hinauf und breitete sich über seine Brust aus, er hatte das Gefühl, es lege sich eine große, kalte Hand auf seinen Torso. Es war nicht nur der Hass, der dem Verlust Annas und Walthers entsprang, es war der Hass darauf, dass Henning ihm den wichtigsten Gefährten seiner Gedanken unwiderruflich genommen hatte – ihn selbst.
    Aber Henning von der Braake ließ sich in seinem Forschungsdrang ebenso wenig begrenzen wie Isenharts Vater. Sie machten vor nichts halt. Sie stellten die Erkenntnis über alles, absolut.
    Servire homini, erinnerte sich Isenhart. Diese Inschrift war eingemeißelt gewesen im Torbogen der Puente, der zum Basar des Wissens führte: dem Menschen dienen.
    Zum Wohle aller – das hatte Henning gesagt, doch die Ermordung der Jungfrauen und des Mönchs entlarvten auf drastische Weise die Phrasenhaftigkeit dieser Worte. Henning von der Braake hatte sie gewählt, um Isenhart für sich und seine Ziele zu gewinnen. Aber wenn ihm das Wohl des Einzelnen nichts galt, dachte Isenhart, war ihm erst recht das Wohl der vielen gleichgültig.
    »Ich habe die Seelen nicht geatmet«, unterbrach Henning von der Braake seine Gedanken. Er lag immer noch am Boden. Während er sprach, versuchte er gleichzeitig, in Isenharts Gesicht zu lesen.
    Isenhart hob das Schwert an.
    »Du glaubst an den Zufall. Gut, es ist Zufall, dass Wilbrand mit einem langen Leben gesegnet ist.«
    Isenhart wusste, dass er nicht darauf eingehen durfte. Er durfte nicht zuhören, er musste seinen Geist vor Hennings Worten abschirmen, sonst konnte nicht gelingen, was getan werden musste.
    »Aber es ist keiner, dass Sydal von Friedberg im Winter 1171 in der Siedlung am Fuß der Burg Laurin aufgetaucht ist. Er wusste, seine Zeit ist knapp bemessen. Im Frühjahr«, fuhr Henning fort, der erleichtert Isenharts aufmerksames Verharren wahrnahm und sich am Eichentisch aufsetzte, »hatte er mit sieben Frauen das Lager geteilt.«
    »Woher willst du das wissen?«
    »Günther hat es mir erzählt. Und jetzt, weil du die Vielfalt betonst, weil du den Zufall geltend machst, solltest du etwas wissen über das Wesen des Zufalls. Ihm hat dein Vater nichts überlassen. Seine Forschung hatte einen hohen Preis – ein Leben an der Seite einer Frau, wie du es in Heiligster führst, war ihm nicht möglich. Er wusste, er wäre früher oder später auf der Flucht. Und auf der überlebt man nur alleine. Aber mit Walther auf den Fersen war es nur eine Frage der Zeit, wann man ihn stellen und zur Verantwortung ziehen würde. Dennoch wollte er Kinder, in denen er weiterleben konnte. Daher teilte er das

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