Isenhart
Mauern und Zinnen der Burg Laurin hoben sich düster gegen den Nachthimmel ab. Der Efeu rankte von einem Felsvorsprung hinab und sorgte für eine natürliche Tarnung des Fluchtganges.
Isenhart folgte der Spur, die Anna hinterlassen hatte, und wie er richtig vermutet hatte, führte sie ihn immer näher zu Giselberts Hütte. Es musste Anna gewesen sein, war Isenhart sich sicher. Ein Ortsunkundiger wäre keinesfalls vom Weg abgewichen, aber die kleinen Fußabdrücke, denen Isenhart folgte, führten quer durchs Unterholz, sie nahmen den kürzesten Weg.
Dann entdeckte er die anderen Spuren. Während Annas Abdrücke weiter durch den Wald führten, gesellten sich von rechts nun die Spuren einer zweiten Person hinzu. Einer Person mit größeren Schuhen. Einer Person, die denselben Weg eingeschlagen hatte wie Anna.
Eine unbestimmte Angst erfasste Isenhart. Er beschleunigte seine Schritte und betete, es möge Giselbert gewesen sein, der, früher zurück als erwartet, den Spuren zu seiner Behausung gefolgt war. Oder Henrick. Der hoffte, sie beim Liebesspiel beobachten zu können.
Isenharts Blick eilte voraus. Die Fußabdrücke führten hinter den mächtigen Stamm einer Eiche, und was er dann sah, ließ ihn verkrampfen und stehen bleiben.
Beide Spuren verschwanden hinter dem Baum. Aber nur eine führte wieder von ihm weg.
Und etwas lag dort, eine Art Bündel, so schien es, aber obwohl Isenhart sich gegen die Erkenntnis sträubte, wusste er doch längst, dass es nicht bloß ein Bündel war.
Auf zittrigen Beinen ging er zu der Eiche. Der Anblick presste ihm die Brust schmerzhaft zusammen. Die Knöchel der Hand, die die Fackel hielt, traten weiß hervor.
Es war Anna, und sie war tot.
Sie lag rücklings im Zentrum eines riesigen, tiefdunklen Flecks, der sich gebildet hatte, als ihr Blut und der Schnee miteinander verschmolzen waren. Ihre Augen starrten ohne jeden Glanz in den Nachthimmel, feiner Frost hatte ihr Gesicht überzogen und verlieh ihrem Antlitz eine unwirkliche Schönheit. Ihr Kopf lag in einem unnatürlichen Winkel zu den Schultern, was nur durch den tiefen Schnitt, mit dem der Mörder ihre Kehle durchtrennt hatte, erklärlich war.
Isenhart ging neben ihrem Leichnam in die Hocke.
Ihre linke Brust lag neben ihr im Schnee. Und dort, wo sie sich befunden hatte, klaffte ein großes Loch. Jemand hatte ihr das Herz herausgerissen.
Isenhart war dankbar über die Kälte der Winternacht, die ihn langsam durchdrang. »Nimm mich auch zu dir, Herr«, flehte er leise, »ich möchte nicht mehr sein.«
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8.
ophia sollte noch Jahre später erschauern, wenn sie sich die Schreie aus dem Wald ins Gedächtnis rief, so gellend hell, dass sie nur von einem waidwunden Tier stammen konnten.
Giselbert hatte ihn gefunden, er kauerte neben der Leiche und war halb erfroren. Isenhart erinnerte sich nur noch an die Hände kräftiger Männer, die ihn und Annas Leiche auf einen Karren hoben. Kurz war da das Gesicht von Walther von Ascisberg, seine betretene Miene, die zwischen Mitleid und Entsetzen schwankte. Es sollte Isenhart Jahre kosten, den Grund dafür zu erfahren.
Der Weg zur Burg dauerte Ewigkeiten. Isenhart ließ seine Hand über die Konturen von Annas Gesicht gleiten. Ihm war, als hätte man auch ihm das Herz aus dem Leib gerissen. Ein unsagbar tiefer Schmerz, von dem er nie angenommen hätte, dass ein Mensch ihn auch nur einen Lidschlag lang ertragen könnte, hatte ihn erfasst und in gnädige Betäubung geführt.
Einmal stoppte der Karren. Isenhart, dem die Tränen über die Wangen liefen, erkannte durch ihren Schleier die Gestalt Sigimunds von Laurin, der zusammengesunken auf seinem Pferd saß.
Als er bemerkte, dass Isenhart ihn sah, straffte er sich und trabte auf seinem Pferd weiter in Richtung Wald.
Im Burghof packte ihn ein starker Mann, warf sich Isenhart über die Schulter und trug ihn zum Hühnerstall. Henrick hatte in aller Eile ein notdürftiges Lager bereitet. Er und der kräftige Mann hüllten ihn in Decken und massierten seine Füße. Walther von Ascisberg hatte es ihnen aufgetragen, nachdem er Isenhart mit einem Dolch einen Schnitt am Rist beigebracht hatte und dieser dabei nicht einmal zusammengezuckt war.
Der kräftige Mann beugte sich nah zu ihm herab. »Was hattestdu im Wald zu suchen?«, fragte er. Isenhart erkannte erst jetzt Konrad in ihm.
Die große Gleichgültigkeit, die an der Eiche von ihm Besitz ergriffen hatte, erfüllte ihn immer noch. Er hatte das Wertvollste verloren, was einem
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