Isenhart
Traurigkeit. Isenhart – diese Frage bewies es ihm – hatte sich während seiner Abwesenheit ganz offensichtlich nicht verändert. Das erzeugte in Konrad ein Gefühl der Vertrautheit, was ihn lächeln ließ. Gleichzeitig stimmte es ihn traurig, denn Isenharts Frage war ein Relikt aus unbeschwerten Jugendtagen, in denen die Welt noch weit und ihnen wohlgesinnt war. In Konrads Augen ein Paradies, das er nicht mehr betreten konnte, und in das Isenhart anscheinend immer noch Zugang hatte.
»Das ist deine Frage?«
Isenhart nickte. Er konnte sehen, wie die Ader auf der Stirn des Geistlichen wieder zum Leben erwachte. Sie nahm ein Violett an, das im goldenen Licht der untergehenden Sonne fast schön wirkte, aber Isenhart hütete sich, Hieronymus darauf aufmerksam zu machen.
»All die Jahre habe ich dich unterrichtet, dir schreiben, lesen und rechnen beigebracht. Und dich die Heilige Schrift studieren lassen.« Er machte zwei schnelle Schritte auf Isenhart zu und sah ihm in die Augen. »Und all das lässt für dich nur diese Frage offen? Warum die Bäume im Herbst ihr Laub verlieren? Habe ich dich richtig verstanden?«
»Ja.«
Hieronymus schnaubte vor Empörung. Etwas an diesem Jungen stimmte nicht. Er hatte es von Anfang an gewusst. Bereits seine Herkunft war höchst dubios. Und nicht nur das, im Zusammenhang mit Isenhart ergaben sich eine Menge ungeklärter Fragen. War denn niemandem aufgefallen, dass Isenhart in seinem ganzen Leben nicht ein einziges Mal krank geworden war? Keine Grippe, ja nicht einmal ein simpler Schnupfen hatte ihn heimgesucht! Sein Vater hatte ihm das Auge ausgeschlagen, und trotzdem nannte er das Sehvermögen eines Raubvogels sein Eigen. Konnte das noch mit rechten Dingen zugehen? Wohl kaum.
Hieronymus war überzeugt von der Existenz einer Kraft, die im Innern dieses Jungen hauste. Er war sich nur nicht sicher, ob der Allmächtige sie in ihn gepflanzt hatte oder der Endchrist.
Der Geistliche kämpfte die unbändige Lust in sich nieder, die danach schrie, den Rohrstock sprechen zu lassen. Nein, er widerstand der Versuchung, er sammelte sich. »Gott ist das A und das O, der Anfang und das Ende«, sagte er mit belegter Stimme, »alles wächst, blüht auf, verwelkt und stirbt – so wie die vier Jahreszeiten. Das ist Gottes Werk. Und es gilt ebenso für die Menschen. Das ist der Lauf der Dinge. Und deshalb werfen die Bäume im Herbst ihr Laub ab, Isenhart.«
Isenhart nickte. »Ich dachte, es gibt vielleicht einen anderen Grund«, brachte er vorsichtig hervor.
»Der da wäre?«
Konrad sah Isenhart von der Seite an, und er hätte geschworen, dass die Augen seines Freundes zu leuchten begannen, als er sich nun vorbeugte.
»Kann es nicht sein, dass die Bäume ihre Blätter abwerfen, damit sie im Winter nicht verdursten?«
Etwas so Abwegiges hatte Hieronymus noch nie zuvor vernommen. Selbst Konrads Wohlwollen, das sich unter anderem aus seiner Überzeugung speiste, Isenhart sei ihnen allen geistig weit überlegen, wurde stark in Anspruch genommen.
»Wie um alles in der Welt kommst du darauf?«, fragte Hieronymus sichtlich fassungslos, »kannst du mir das mal sagen? Wie kommst du auf so etwas?« Er beugte sich nah zu ihm herunter, fast berührten sich ihre Nasenspitzen: »Wer flüstert dir so etwas ein?«
»Niemand. Es war nur …«
»Nur was? «
»Wenn man im Sommer ein Blatt zwischen den Fingern zerquetscht«, erklärte Isenhart, »dann läuft einem der Pflanzensaft über die Finger.«
»Was für eine Beobachtung«, kommentierte Hieronymus mit beißendem Unterton.
Aber der junge Mann ließ sich davon nicht beirren und fuhr fort: »Das Blatt ist voller Saft, aber im Herbst, wenn es abgeworfen wird, ist es verdorrt. Es verfügt über keinen Saft mehr – warum? Weil der Baum ihn wieder an sich genommen hat.«
Hieronymus ertappte sich bei dem – natürlich höchst absurden – Gedanken, Isenhart könnte recht haben. Aber dann schüttelte er den Kopf, sein Blut geriet in Wallung, weil er wankelmütig geworden war. Wankelmütig wegen der Worte eines jungen Schmieds, der es wagte, seinen Erklärungsansatz gegen Gottes Werk zu stellen.
»Sind Bäume Wesen? Haben sie Muskeln?«, fragte der Geistliche erzürnt, »können sie Saft anziehen? «
»Warum nicht?«, erwiderte Isenhart, der sich über Hieronymus’ Bereitschaft freute, sich mit dieser Frage auseinanderzusetzen. Und dabei alle Warnsignale missachtete, die ihm sonst nicht entgangen wären. »Sie können den Saft, den sie aus dem
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