Isis
eingesetzt«, fuhr er fort. »Die Mauern Wasets sind unversehrt.
Trotzdem sind die feindlichen Krieger in die Stadt gelangt.
Wie konnte das geschehen?« Er fuchtelte mit seinen dunklen Bauernhänden, die keine Salbe, kein noch so erlesenes Öl jemals würden verfeinern können, vor ihr herum. »Außerdem kann sich niemand entsinnen, irgendwo die Garde Montemhets gesehen zu haben. Wo steckte sie, frage ich dich, als der Überraschungsangriff erfolgte? Und weshalb gab es nicht einmal den Ansatz einer Verteidigung?« Die plumpen Finger hielten plötzlich inne. »Äußerst interessante Fragen, wie du zugeben musst. Und noch um einiges interessanter, wenn man sie miteinander verknüpft. Meiner Meinung nach .«
»Du warst persönlich anwesend?« Schepenupet war herumgefahren.
»Natürlich nicht«, erwiderte er beleidigt, »ich verharrte im Gebet vor der Statue des Gottes. Was übrigens keiner besser wissen kann als du, denn du warst ja die meiste Zeit direkt neben mir.«
»Sonst noch etwas?« Sie musterte ihn kalt.
»Es wird gemunkelt, der Fürst sei von dem Einfall der Assyrer keineswegs überrascht gewesen. Ich vermisse ihn übrigens hier in unserer Runde, wo sein Platz wäre. Schließlich ist er der Vierte Prophet Amuns. Wann kehren eigentlich seine Söhne wieder aus dem Goldland zurück?«
»Wie sollte er auch überrascht gewesen sein?«, sagte sie.
Zum Glück war sie auf solche Dialoge innerlich gut vorbereitet. Sie kannte die Priester. Sie wusste inzwischen, was sie von ihnen zu erwarten hatte. »Wo doch selbst das kleinste Kind tagtäglich mit ihrem Angriff gerechnet hat! Montemhet hat alles getan, was in seiner Macht stand, um Waset für diese schweren Stunden zu rüsten. Niemals zuvor waren unsere Mauern so stark, nie unsere Türme so hoch und gut bewehrt.«
Inzwischen stand der Hohepriester so nah bei ihr, dass sie nicht mehr ausweichen konnte. Er hatte die lächerliche Angewohnheit angenommen, sein Gesicht wie eine eitle Frau zu pudern. Seine Haut jedoch wurde dadurch nicht heller, sondern nur fleckig, besonders wenn er schwitzte wie jetzt.
»Und niemals unsere Maulwürfe so eifrig«, sagte Horachbit.
Sie sah die losen Falten weichen Fleisches um seine Augen. Er wurde langsam alt. Aber er war noch immer gefährlich — vielleicht sogar gefährlicher denn je. Denn nun, da die politischen Verhältnisse es in seinen Augen erforderten, versuchte er den Anteil schwarzen Blutes, das in seinen Adern floss, mit aller Macht zu verleugnen. Sie aber war und blieb eine Tochter des Goldlandes, was immer auch geschehen mochte. »Es müssen Tausende am Werk gewesen sein, eine echte Invasion. Und offenbar äußerst effizient. Sollte dir etwa der beeindruckenden Erdhügel nahe der Stadtmauer entgangen sein?«
Ihr Gesicht war unbewegt und erinnerte ihn an eine polierte Bronzeschale. Für seinen Geschmack allerdings war es viel zu dunkel. Er konnte es kaum erwarten, es endlich in hässliche Risse zerspringen zu sehen.
»Und das Gerede in der Stadt will und will einfach nicht aufhören«, fuhr der Hohepriester fort. »Es heißt, Montemhet habe das Heerlager der Assyrer seit Tagen nicht mehr verlassen. Man spekuliert bereits, ob er mit seinen neuen Verbündeten schon den Marsch nach Ninive vorbereitet.«
Seine Mundwinkel hoben sich leicht. »Oder meinst du, er wird uns auch künftig als >Großer in Waset< erhalten bleiben?«
Bei seinen Worten durchströmte sie keine Angst, sondern klare, helle Wut, die sie am liebsten laut herausgebrüllt hätte.
Aber Horachbit sollte niemals in den Genuss einer unbedachten Reaktion kommen - nicht, solange sie die amtierende »Gottesgemahlin des Amun« war. Es gelang ihr, Mimik und Gestik perfekt zu kontrollieren.
»Der Vierte Prophet führt dort Verhandlungen mit dem Turtan«, sagte sie, »dem wohl unbarmherzigsten Heerführer, den die harte Erde Assurs je hervorgebracht hat. Bete zu Amun, dass seine Mission erfolgreich ist! Denn allein Montemhets Geschick wird entscheiden, ob und wie Waset überleben wird.«
Der Hohepriester öffnete den Mund zu einer weiteren Entgegnung, sie aber ließ ihn einfach stehen. Kühl und gefasst beendete sie die Versammlung, indem sie die Aufgaben verteilte und alle notwendigen Anordnungen traf.
Schließlich entließ sie alle Priester und Propheten.
Erst als sie allein in der Halle zurückgeblieben war, erschlaffte sie. Gerade noch schaffte sie den Weg zurück in ihre Räume, die sparsam, fast karg möbliert waren, weil sie keinerlei Enge ertrug.
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