Isis
inzwischen schon gewohnheitsmäßig nach dem Schatz, den sie eng an ihrem Leib trug. Dann ergriff sie die lange Stange, die sie im Boot gefunden hatte, und begann vorsichtig zu staken. Langsam trieben sie auf den dunklen Fluss hinaus.
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Es war still in der »Halle der Neunheit«, in der sich auf Geheiß der »Gottesgemahlin« die wichtigsten Amun-Priester versammelt hatten, so still, dass jedes Hüsteln, jedes Scharren fast schon überdeutlich zu hören waren.
»Wie konnte der Pharao sich einfach so davonstehlen?«, fragte schließlich der Erste Tempelschreiber Meru, der wegen einer entfernten Verwandtschaft mit Schepenupet immer versuchte, Sonderrechte für sich zu beanspruchen. »Und uns damit kampflos den Feinden ausliefern?« Sein schmales Gesicht mit den blanken Augen erinnerte an eine Wüstenmaus; seine Schultern waren eckig wie bei einem zu schnell aufgeschossenen Jugendlichen. Seit Jahren quälten ihn Magenprobleme, die sich schließlich auch auf seinen Charakter ausgewirkt hatten. So war es seine Art, immer das Schlimmste anzunehmen. Jetzt jedoch fand er selbst seine ärgsten Befürchtungen bei weitem übertroffen. »Taharka hätte uns niemals im Stich gelassen!«
»Das Heer des Pharaos wurde bereits im Norden aufgerieben. Er konnte nur knapp den Assyrern entgehen. Was für einen Vorteil hätte seine Gefangennahme der Stadt gebracht?«, erwiderte Schepenupet gelassen. »Außerdem ist Taharka tot. Jetzt trägt Tanutamun die Doppelkrone.«
»Ist er nach Napata gesegelt?«, bohrte Meru weiter. »Dann wird er sicherlich von dort mit ausgeruhten und gut bewaffneten Truppen erneut stromabwärts stoßen und uns helfen!
Schließlich wissen wir ja, wie tapfer Kuschiten kämpfen können.« Er versäumte keine Gelegenheit, auf ihre gemeinsame Abstammung aus dem Goldland hinzuweisen, die ihn mit größtem Stolz erfüllte. »Bestimmt hat Tanutamun doch wenigstens dir eine Nachricht zukommen lassen.«
»Der Einzig-Eine ist Sohn des Re. Er dient den Göttern und lässt die Maat über die Welt herrschen.« Auf Fragen, die sie nicht zu beantworten gedachte, reagierte die »Gottesgemahlin« mit einem geheimnisvollen Lächeln, das alles offen ließ.
»Soll das etwa heißen .«
». dass das Werk der Maat in höchster Gefahr ist, denn ein Fluch liegt auf der Stadt«, unterbrach ihn der Amun-Priester Irti. »Die Götter haben uns verlassen. Amun liebt uns nicht mehr.«
»Ja, du hast Recht. Was wir hier erleben, ist das Ende Wasets«, pflichtete ihm der Hohepriester Horachbit eifrig bei, »wenn nicht gar das Ende ganz Kemets.«
»Wir Sterblichen sind nichts als Wiederholung. Nur die Götter sind Ursprung allen Seins. Müssten Amuns Diener das eigentlich nicht am allerbesten wissen?«
Schepenupet war kaum lauter geworden, und doch zeugte jedes Wort von ihrer Autorität. Sie war die einzige Frau unter rund drei Dutzend Männern, von denen jeder Einzelne aus anderen Motiven mit ihr haderte. Seit dem Tod ihrer Vorgängerin hatte sich vieles im Tempel geändert. Sie hatte das Amt von unnötigem Ballast befreit und mit neuen Inhalten gefüllt. Inzwischen war die Stellung der »Gottesgemahlin« stärker und angesehener denn je, nicht nur in religiöser Hinsicht. Obwohl ihre Nichte Amenardis seit Jahren ihre designierte Nachfolgerin war, spielte das zurückhaltende junge Mädchen im Tempel noch keine Rolle. Außerdem hatte Schepenupet keinerlei Angst vor Konflikten mit der konservativen Priesterschaft, die auf ihre tradierten Privilegien pochte und Neuerungen ablehnend, oftmals geradezu feindlich gegenüber stand. Keiner der Männer wagte, offen gegen sie aufzutreten. Aber sie hatte nur so mächtig werden können, weil sie stets furchtlos die Waffen der Auseinandersetzung bestimmte und niemand vorhersehen konnte, welche Wahl sie treffen würde.
»Wie könnte Amun uns je verlassen?«, fuhr sie fort, »der Verborgene, der allem Lebendigen seinen Atem einhaucht?
Ewig ist der Widderköpfige. Er spendet die Energie, ist König der Götter, Vater der Väter. Amun schützt dieses Land und diese Stadt. Sagt selbst: Hat Kernet nicht schon zahllose Eroberer kommen und gehen sehen?«
Einige der Männer nickten zögernd.
»Und sind wir nicht noch immer hier?«, fragte sie weiter, ohne eine Miene zu verziehen.
Noch mehr Propheten des Gottes wiegten nachdenklich den Kopf.
»Er ist der Schöpfer des Schwarzen Landes, das sich aus den Fluten des Nun erhob, der große Wind, der die Wasser des Nil steigen lässt. Kernet müsste
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