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Isis

Isis

Titel: Isis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Riebe
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Kleinen die Augen zu verbinden, damit es weniger Angst haben musste, »und keine ungefährliche dazu. Aber uns beide hält niemand auf. Wir erreichen unser Ziel, wirst schon sehen!«
    Eine merkwürdige Gelassenheit hatte sie erfasst, die sie sich selber nicht erklären konnte. Draußen schienen Himmel und Erde die Plätze vertauscht zu haben; auf den Straßen tobte sinnloses, grausames Töten, das sie nicht verstand. Aber was auch geschehen mochte, sie würde das Kleine niemals wieder verlassen. Und trotz aller Furcht machte dieser Gedanke sie glücklich und leicht.
    Sie band sich das Kind wieder auf den Rücken, das sich schutzsuchend an ihren Körper schmiegte und im Halbschlaf kleine Laute ausstieß, und verließ das Haus.
    Es war furchtbar, was sie im flackernden Schein vereinzelter Öllichter zu sehen bekam: Leichen, die noch im Tod ihre Habe umklammert hielten; andere, von Lanzen zerfetzt oder Pfeilen durchbohrt, die Schädel eine blutige Masse. Tote zwischen scheußlich zermalmten Innereien, enthauptet, geschändet, bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Manche hatten sich im Sterben aneinander geklammert, andere lagen da, die Hände erhoben oder zu Fäusten geballt, und in ihrem letzten Blick war noch die Verwirrung oder erlittene Pein zu lesen.
    Dazwischen alle möglichen malträtierten Tierkadaver, Hunde, Katzen, Esel, als wäre der Hass auf die Menschen nicht ausreichend gewesen und hätte alles sterben müssen, was den Eroberern in den Weg gekommen war.
    Man war versucht zu glauben, bereits im Totenreich angelangt zu sein, obwohl sich zwischen all den Leichen und Sterbenden noch Überlebende wie scheue Nachtwesen im fahlen Mondlicht bewegten, unfähig zu begreifen, was eigentlich geschehen war. Im Vorübergehen hörte Ruza Worte und Satzfetzen, sie verbanden sich mit dem
    Takt ihrer Schritte zu einem eigenartig stampfenden Rhythmus, der ihr ungeahnte Kräfte verlieh und sie unaufhaltsam vorantrieb.
    »Kein Mauersturm ... alle Türme unversehrt ...«
    »Jemand muss sie hereingelassen haben ...«
    »Verrat .«
    Ruza ging weiter, unbeirrt, wie unter Zwang. Wenn das, was sie sah, zu schrecklich war, verengte sie die Augen zu Schlitzen und betete stumm, bis es vorüber war. Das Kind schien zu schlafen; sein warmer Körper bewegte sich im Takt mit dem ihren. Inzwischen wusste sie auch, wohin sie sich wenden konnten, bis das Allerschlimmste vorbei war. Die Söhne Assurs hatten Waset in eine Totenstadt verwandelt. Was lag da näher, als sich bei den Mumien am Westufer zu verstecken, deren ewige Ruhe vermutlich nicht einmal die dreistesten Eroberer zu stören wagten?
    Selenes Mann, der Steinmetz Nezem, entstammte dem Dorf, das unmittelbar am Fuß der Königsnekropole lag. Seit Generationen brachte es Maler und Steinbearbeiter hervor und, wie ganz Kernet munkelte, zudem die geschicktesten und raffiniertesten Grabräuber des Landes. Die Herrin hatte sie mehrmals dorthin geschickt, um ihrer Freundin, der Frau aus Keftiu, etwas zu bestellen. Damals war Ruza mit der regulären Fähre übergesetzt, die das West- mit dem Ostufer verband, was sie nicht daran gehindert hatte, Augen und Ohren offen zu halten.
    Die leichten Nachen, versteckt im Schilf vertaut, waren ihrer Aufmerksamkeit ebenso wenig entgangen wie die Männer, die mit ihnen auf Fischfang oder Vogeljagd gingen. Sie selbst besaß keinerlei Erfahrung im Umgang mit Booten und konnte nicht einmal richtig schwimmen. Aber der große Fluss führte jetzt im Sommer so wenig Wasser, dass es zu bewerkstelligen sein musste, ein Papyrusboot auf die andere Seite zu bringen. Vielleicht würden sie im Dorf Zuflucht finden, um dann weiter stromaufwärts zu reisen. Und wenn nicht, so ließ sich vielleicht eine andere Lösung finden, über die sie später nachdenken konnte.
    Als sie schließlich ohne Zwischenfall das Ufer erreicht und einen vom langen Gebrauch grau gewordenen Nachen entdeckt hatte, wusste sie, dass ihre Überlegungen richtig gewesen waren. Beim näheren Augenschein erschien ihr der Kahn zwar reichlich ramponiert, für ihre Zwecke aber dennoch geeignet. Sie löste das gewebte Tragetuch, in dem das Kleine steckte, und nahm dem Kind die Binde ab. Es blinzelte, rieb sich mit den Fäustchen die Augen und lächelte sie an.
    Vor Erleichterung küsste sie es so stürmisch, dass es erschrak und zu weinen begann. Sie herzte das Kind, bis es sich endlich wieder beruhigte.
    Vorsichtig bettete sie es in den Nachen, wobei ihr als Unterlage ihre Tasche diente, und tastete

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